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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Der Selbständigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
stimmungen vorkommen, die diesen Gesichtspunkten angehören,
aber wenn letztere sich auf dem Rechtsgebiete in den Vorder-
grund drängen dürften, so wäre es um die rechtliche Freiheit und
folglich auch um das Recht selbst geschehen, denn die rechtliche
Freiheit besteht eben darin, das Sittliche und Zweckmäßige aus
eignem Antriebe zu thun.

In der Censur tritt nun der Unterschied jener beiden Prin-
zipien von Recht klar und äußerlich hervor. Berechtigt uns die
Censur durch ihren patriarchalischen Zuschnitt einerseits, sie,
wie früher (B. 1 S. 176) geschehen, als einen Ausläufer des
Familienprinzips zu bezeichnen, so dürfen wir andererseits nicht
verkennen, daß sie sich weit über das Niveau desselben erhebt.
Denn gerade der Gegensatz zwischen Recht und Sitte, der ihr
zu Grunde liegt, ist dem Familienprinzip fremd. Die Familie
als die niederste und engste Form sittlicher Gemeinschaft um-
faßt die sittliche Substanz in ihrer ursprünglichen Unterschei-
dungslosigkeit, und dies gilt auch, wie früher gezeigt, von der
römischen Gentil-Verfassung. In den Pflichten, die sie mit sich
führte, und in der Handhabung derselben durch die Gentil-Ge-
richte, trat der Unterschied zwischen Recht und Moral noch nicht
äußerlich hervor; die Gens umfaßte unterschiedslos die ge-
sammte sittliche, rechtliche, religiöse Existenz ihrer Mitglieder.
Als nun aber das Privatrecht -- wir haben früher (B. 1
S. 333) bemerkt, daß wir darin vorzugsweise ein Verdienst
der Plebejer erblicken -- sich aus den Banden des Familien-
prinzips losriß, und das abstracte Rechtsprinzip in seiner ganzen
Schärfe und Schroffheit zum Durchbruch kam, ward das Gleich-
gewicht zwischen Recht und Sitte, das bisher innerhalb des
Rechts selbst lag, von außen durch das in der Censur geschaffene
Gegengewicht erhalten. Nicht dahin schlug jetzt die Ansicht um,
als ob jene Freiheit, wie sie das Recht proklamirte, in ihrer
ganzen Zügellosigkeit sich geltend machen solle; das Tempera-
ment des Rechts, das bisher im Recht selbst gelegen, ward nur

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I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26.
ſtimmungen vorkommen, die dieſen Geſichtspunkten angehören,
aber wenn letztere ſich auf dem Rechtsgebiete in den Vorder-
grund drängen dürften, ſo wäre es um die rechtliche Freiheit und
folglich auch um das Recht ſelbſt geſchehen, denn die rechtliche
Freiheit beſteht eben darin, das Sittliche und Zweckmäßige aus
eignem Antriebe zu thun.

In der Cenſur tritt nun der Unterſchied jener beiden Prin-
zipien von Recht klar und äußerlich hervor. Berechtigt uns die
Cenſur durch ihren patriarchaliſchen Zuſchnitt einerſeits, ſie,
wie früher (B. 1 S. 176) geſchehen, als einen Ausläufer des
Familienprinzips zu bezeichnen, ſo dürfen wir andererſeits nicht
verkennen, daß ſie ſich weit über das Niveau deſſelben erhebt.
Denn gerade der Gegenſatz zwiſchen Recht und Sitte, der ihr
zu Grunde liegt, iſt dem Familienprinzip fremd. Die Familie
als die niederſte und engſte Form ſittlicher Gemeinſchaft um-
faßt die ſittliche Subſtanz in ihrer urſprünglichen Unterſchei-
dungsloſigkeit, und dies gilt auch, wie früher gezeigt, von der
römiſchen Gentil-Verfaſſung. In den Pflichten, die ſie mit ſich
führte, und in der Handhabung derſelben durch die Gentil-Ge-
richte, trat der Unterſchied zwiſchen Recht und Moral noch nicht
äußerlich hervor; die Gens umfaßte unterſchiedslos die ge-
ſammte ſittliche, rechtliche, religiöſe Exiſtenz ihrer Mitglieder.
Als nun aber das Privatrecht — wir haben früher (B. 1
S. 333) bemerkt, daß wir darin vorzugsweiſe ein Verdienſt
der Plebejer erblicken — ſich aus den Banden des Familien-
prinzips losriß, und das abſtracte Rechtsprinzip in ſeiner ganzen
Schärfe und Schroffheit zum Durchbruch kam, ward das Gleich-
gewicht zwiſchen Recht und Sitte, das bisher innerhalb des
Rechts ſelbſt lag, von außen durch das in der Cenſur geſchaffene
Gegengewicht erhalten. Nicht dahin ſchlug jetzt die Anſicht um,
als ob jene Freiheit, wie ſie das Recht proklamirte, in ihrer
ganzen Zügelloſigkeit ſich geltend machen ſolle; das Tempera-
ment des Rechts, das bisher im Recht ſelbſt gelegen, ward nur

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[51/0065] I. Der Selbſtändigkeitstrieb. 2. Zu-Sich-Kommen des Rechts. §. 26. ſtimmungen vorkommen, die dieſen Geſichtspunkten angehören, aber wenn letztere ſich auf dem Rechtsgebiete in den Vorder- grund drängen dürften, ſo wäre es um die rechtliche Freiheit und folglich auch um das Recht ſelbſt geſchehen, denn die rechtliche Freiheit beſteht eben darin, das Sittliche und Zweckmäßige aus eignem Antriebe zu thun. In der Cenſur tritt nun der Unterſchied jener beiden Prin- zipien von Recht klar und äußerlich hervor. Berechtigt uns die Cenſur durch ihren patriarchaliſchen Zuſchnitt einerſeits, ſie, wie früher (B. 1 S. 176) geſchehen, als einen Ausläufer des Familienprinzips zu bezeichnen, ſo dürfen wir andererſeits nicht verkennen, daß ſie ſich weit über das Niveau deſſelben erhebt. Denn gerade der Gegenſatz zwiſchen Recht und Sitte, der ihr zu Grunde liegt, iſt dem Familienprinzip fremd. Die Familie als die niederſte und engſte Form ſittlicher Gemeinſchaft um- faßt die ſittliche Subſtanz in ihrer urſprünglichen Unterſchei- dungsloſigkeit, und dies gilt auch, wie früher gezeigt, von der römiſchen Gentil-Verfaſſung. In den Pflichten, die ſie mit ſich führte, und in der Handhabung derſelben durch die Gentil-Ge- richte, trat der Unterſchied zwiſchen Recht und Moral noch nicht äußerlich hervor; die Gens umfaßte unterſchiedslos die ge- ſammte ſittliche, rechtliche, religiöſe Exiſtenz ihrer Mitglieder. Als nun aber das Privatrecht — wir haben früher (B. 1 S. 333) bemerkt, daß wir darin vorzugsweiſe ein Verdienſt der Plebejer erblicken — ſich aus den Banden des Familien- prinzips losriß, und das abſtracte Rechtsprinzip in ſeiner ganzen Schärfe und Schroffheit zum Durchbruch kam, ward das Gleich- gewicht zwiſchen Recht und Sitte, das bisher innerhalb des Rechts ſelbſt lag, von außen durch das in der Cenſur geſchaffene Gegengewicht erhalten. Nicht dahin ſchlug jetzt die Anſicht um, als ob jene Freiheit, wie ſie das Recht proklamirte, in ihrer ganzen Zügelloſigkeit ſich geltend machen ſolle; das Tempera- ment des Rechts, das bisher im Recht ſelbſt gelegen, ward nur 4*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/65>, abgerufen am 25.11.2024.