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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
ertheilen; ich brauche nicht zu bemerken, daß hier nur die sitten-
richterliche Seite derselben gemeint ist.35)

Betrachten wir einmal die Fälle, in denen der Censor einzu-
schreiten pflegte.36) Als solche werden uns genannt: Meineid,
Ehebruch, leichtsinnige Ehescheidung, Ehelosigkeit, Grausam-
keit gegen Untergebene, z. B. auch gegen Sklaven, Schwelge-
rei, Verschwendung, selbst bloßer Luxus, Zerrüttung der ökono-
mischen Verhältnisse, unordentlicher Betrieb der Landwirthschaft,
tadelnswerthes öffentliches Auftreten z. B. Haschen nach Volks-
gunst, Neuerungssucht, Verletzung der der Obrigkeit schuldigen
Ehrfurcht u. s. w. Wie man aus diesem Verzeichniß sieht, be-
schränkte sich die Rüge des Censors nicht bloß auf eigentliche
Unsittlichkeiten, sondern sie erstreckte sich auch auf Handlungen,
die sich mehr als unverständige, denn als unsittliche bezeichnen
lassen, als solche, deren der römische diligens paterfamilias sich
zu enthalten pflegte. Es war nicht bloß der Gesichtspunkt der
Moral, den der Censor vertrat, sondern auch der der öffentlichen
oder privaten ökonomischen Politik.

Diese beiden Gesichtspunkte meinte ich nun namentlich, wenn
ich von Motiven sprach, die dem Recht fremdartig seien und in
der Censur ihre Befriedigung gefunden hätten. Es liegt mir
nichts daran, wenn man mir den Ausdruck: fremdartig bestrei-
ten will; ich habe ihn nur gewählt, um den Gegensatz dieser
beiden Gesichtspunkte zum Rechtsprinzip recht scharf zu bezeich-
nen. Ich will nicht in Abrede stellen, daß in jedem Recht Be-

35) Die Verbindung derselben mit der censualen Seite ist nicht so auf-
fällig, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Nach dieser letzten Seite
hin hatte die Censur die Statistik der Nationalkraft zu ihrem Gegenstande,
und damit war die Brücke zu ihrer andern Seite geschlagen, nämlich zu der
Sorge für die Erhaltung der Nationalkraft. Letztere ist aber nicht bloß phy-
sischer und materieller, sondern auch sittlicher Art.
36) S. Jarke Versuch einer Darstellung des censorinischen Strafrechts
der Römer. Bonn 1824. Cap. 2.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ertheilen; ich brauche nicht zu bemerken, daß hier nur die ſitten-
richterliche Seite derſelben gemeint iſt.35)

Betrachten wir einmal die Fälle, in denen der Cenſor einzu-
ſchreiten pflegte.36) Als ſolche werden uns genannt: Meineid,
Ehebruch, leichtſinnige Eheſcheidung, Eheloſigkeit, Grauſam-
keit gegen Untergebene, z. B. auch gegen Sklaven, Schwelge-
rei, Verſchwendung, ſelbſt bloßer Luxus, Zerrüttung der ökono-
miſchen Verhältniſſe, unordentlicher Betrieb der Landwirthſchaft,
tadelnswerthes öffentliches Auftreten z. B. Haſchen nach Volks-
gunſt, Neuerungsſucht, Verletzung der der Obrigkeit ſchuldigen
Ehrfurcht u. ſ. w. Wie man aus dieſem Verzeichniß ſieht, be-
ſchränkte ſich die Rüge des Cenſors nicht bloß auf eigentliche
Unſittlichkeiten, ſondern ſie erſtreckte ſich auch auf Handlungen,
die ſich mehr als unverſtändige, denn als unſittliche bezeichnen
laſſen, als ſolche, deren der römiſche diligens paterfamilias ſich
zu enthalten pflegte. Es war nicht bloß der Geſichtspunkt der
Moral, den der Cenſor vertrat, ſondern auch der der öffentlichen
oder privaten ökonomiſchen Politik.

Dieſe beiden Geſichtspunkte meinte ich nun namentlich, wenn
ich von Motiven ſprach, die dem Recht fremdartig ſeien und in
der Cenſur ihre Befriedigung gefunden hätten. Es liegt mir
nichts daran, wenn man mir den Ausdruck: fremdartig beſtrei-
ten will; ich habe ihn nur gewählt, um den Gegenſatz dieſer
beiden Geſichtspunkte zum Rechtsprinzip recht ſcharf zu bezeich-
nen. Ich will nicht in Abrede ſtellen, daß in jedem Recht Be-

35) Die Verbindung derſelben mit der cenſualen Seite iſt nicht ſo auf-
fällig, als es auf den erſten Blick ſcheinen möchte. Nach dieſer letzten Seite
hin hatte die Cenſur die Statiſtik der Nationalkraft zu ihrem Gegenſtande,
und damit war die Brücke zu ihrer andern Seite geſchlagen, nämlich zu der
Sorge für die Erhaltung der Nationalkraft. Letztere iſt aber nicht bloß phy-
ſiſcher und materieller, ſondern auch ſittlicher Art.
36) S. Jarke Verſuch einer Darſtellung des cenſoriniſchen Strafrechts
der Römer. Bonn 1824. Cap. 2.
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[50/0064] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. ertheilen; ich brauche nicht zu bemerken, daß hier nur die ſitten- richterliche Seite derſelben gemeint iſt. 35) Betrachten wir einmal die Fälle, in denen der Cenſor einzu- ſchreiten pflegte. 36) Als ſolche werden uns genannt: Meineid, Ehebruch, leichtſinnige Eheſcheidung, Eheloſigkeit, Grauſam- keit gegen Untergebene, z. B. auch gegen Sklaven, Schwelge- rei, Verſchwendung, ſelbſt bloßer Luxus, Zerrüttung der ökono- miſchen Verhältniſſe, unordentlicher Betrieb der Landwirthſchaft, tadelnswerthes öffentliches Auftreten z. B. Haſchen nach Volks- gunſt, Neuerungsſucht, Verletzung der der Obrigkeit ſchuldigen Ehrfurcht u. ſ. w. Wie man aus dieſem Verzeichniß ſieht, be- ſchränkte ſich die Rüge des Cenſors nicht bloß auf eigentliche Unſittlichkeiten, ſondern ſie erſtreckte ſich auch auf Handlungen, die ſich mehr als unverſtändige, denn als unſittliche bezeichnen laſſen, als ſolche, deren der römiſche diligens paterfamilias ſich zu enthalten pflegte. Es war nicht bloß der Geſichtspunkt der Moral, den der Cenſor vertrat, ſondern auch der der öffentlichen oder privaten ökonomiſchen Politik. Dieſe beiden Geſichtspunkte meinte ich nun namentlich, wenn ich von Motiven ſprach, die dem Recht fremdartig ſeien und in der Cenſur ihre Befriedigung gefunden hätten. Es liegt mir nichts daran, wenn man mir den Ausdruck: fremdartig beſtrei- ten will; ich habe ihn nur gewählt, um den Gegenſatz dieſer beiden Geſichtspunkte zum Rechtsprinzip recht ſcharf zu bezeich- nen. Ich will nicht in Abrede ſtellen, daß in jedem Recht Be- 35) Die Verbindung derſelben mit der cenſualen Seite iſt nicht ſo auf- fällig, als es auf den erſten Blick ſcheinen möchte. Nach dieſer letzten Seite hin hatte die Cenſur die Statiſtik der Nationalkraft zu ihrem Gegenſtande, und damit war die Brücke zu ihrer andern Seite geſchlagen, nämlich zu der Sorge für die Erhaltung der Nationalkraft. Letztere iſt aber nicht bloß phy- ſiſcher und materieller, ſondern auch ſittlicher Art. 36) S. Jarke Verſuch einer Darſtellung des cenſoriniſchen Strafrechts der Römer. Bonn 1824. Cap. 2.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/64>, abgerufen am 24.11.2024.