Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

B. Stellung der Magistratur. -- Machtfülle, Sinn derselben. §. 35.
Zeit ernannte Tyrannen." Ließ doch Einer einst den Consul,
der ihn in der Rede unterbrochen, ins Gefängniß werfen, ein
anderer gar beide Consuln, ein dritter neun seiner Collegen le-
bendig verbrennen!419)

Das Ueberraschende an diesen Gewaltverhältnissen ist nicht
sowohl die außerordentlich weite Erstreckung der Gewalt, als
der Umstand, daß selbst die exorbitantesten Befugnisse an gar
keine Voraussetzungen geknüpft sind. Es gilt hier dieselbe Be-
merkung, die ich S. 149 hinsichtlich der gleichen Erscheinung
auf dem Gebiete des Privatrechts gemacht habe.420) Die still-
schweigende Bedingung für die Ausübung aller jener Befugnisse
ist die, daß in dem concreten Fall die Voraussetzungen vorlie-
gen, die einen Gebrauch derselben rechtfertigen. Wie aber die
Voraussetzungen beschaffen sein sollen, und ob sie wirklich vor-
handen sind, das ist auch hier lediglich dem Urtheil des Inne-
habers der Gewalt anheimgestellt. Er kann einen Mißgriff be-
gehen -- gewiß -- aber dafür ist ihm andererseits auch die
Möglichkeit der Wahl des "Besten" d. h. einer rein individuel-
len, durch keine Gesetze beschränkten Beurtheilung des einzelnen
Falls offen gelassen. Selbst wenn jene Gefahr nicht durch
Gründe, von denen gleich die Rede sein wird, um ein beträcht-
liches vermindert worden wäre, so mochten sich die Römer mit
dem Gesichtspunkt trösten, den Cicero bei der Beurtheilung der
tribunitischen Gewalt aufstellte, nämlich daß das Schlechte der

419) Val. Max. VI. 3, 2. IX. 5, 2. Cic. de leg. III. c. 9. Aur. Vict.
de vir. ill. 66. §. 9.
420) Ich könnte hier noch auf die Vormundschaft des ältern Rechts ver-
weisen, deren ich dort zu gedenken keine Veranlassung fand. Die Charakte-
ristik der öffentlichen Gewalten paßt fast Zug für Zug auch auf sie. Sie war
bekanntlich im ältern Recht ein Gewaltverhältniß (jus in capite libero), und
zwar ein rechtlich sehr freies, der Vormund war durch keine Vorschriften und
Beschränkungen gebunden und konnte erst nach Niederlegung seines Amts zur
Verantwortung gezogen werden.

B. Stellung der Magiſtratur. — Machtfülle, Sinn derſelben. §. 35.
Zeit ernannte Tyrannen.“ Ließ doch Einer einſt den Conſul,
der ihn in der Rede unterbrochen, ins Gefängniß werfen, ein
anderer gar beide Conſuln, ein dritter neun ſeiner Collegen le-
bendig verbrennen!419)

Das Ueberraſchende an dieſen Gewaltverhältniſſen iſt nicht
ſowohl die außerordentlich weite Erſtreckung der Gewalt, als
der Umſtand, daß ſelbſt die exorbitanteſten Befugniſſe an gar
keine Vorausſetzungen geknüpft ſind. Es gilt hier dieſelbe Be-
merkung, die ich S. 149 hinſichtlich der gleichen Erſcheinung
auf dem Gebiete des Privatrechts gemacht habe.420) Die ſtill-
ſchweigende Bedingung für die Ausübung aller jener Befugniſſe
iſt die, daß in dem concreten Fall die Vorausſetzungen vorlie-
gen, die einen Gebrauch derſelben rechtfertigen. Wie aber die
Vorausſetzungen beſchaffen ſein ſollen, und ob ſie wirklich vor-
handen ſind, das iſt auch hier lediglich dem Urtheil des Inne-
habers der Gewalt anheimgeſtellt. Er kann einen Mißgriff be-
gehen — gewiß — aber dafür iſt ihm andererſeits auch die
Möglichkeit der Wahl des „Beſten“ d. h. einer rein individuel-
len, durch keine Geſetze beſchränkten Beurtheilung des einzelnen
Falls offen gelaſſen. Selbſt wenn jene Gefahr nicht durch
Gründe, von denen gleich die Rede ſein wird, um ein beträcht-
liches vermindert worden wäre, ſo mochten ſich die Römer mit
dem Geſichtspunkt tröſten, den Cicero bei der Beurtheilung der
tribunitiſchen Gewalt aufſtellte, nämlich daß das Schlechte der

419) Val. Max. VI. 3, 2. IX. 5, 2. Cic. de leg. III. c. 9. Aur. Vict.
de vir. ill. 66. §. 9.
420) Ich könnte hier noch auf die Vormundſchaft des ältern Rechts ver-
weiſen, deren ich dort zu gedenken keine Veranlaſſung fand. Die Charakte-
riſtik der öffentlichen Gewalten paßt faſt Zug für Zug auch auf ſie. Sie war
bekanntlich im ältern Recht ein Gewaltverhältniß (jus in capite libero), und
zwar ein rechtlich ſehr freies, der Vormund war durch keine Vorſchriften und
Beſchränkungen gebunden und konnte erſt nach Niederlegung ſeines Amts zur
Verantwortung gezogen werden.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p><pb facs="#f0291" n="277"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">B.</hi> Stellung der Magi&#x017F;tratur. &#x2014; Machtfülle, Sinn der&#x017F;elben. §. 35.</fw><lb/>
Zeit ernannte Tyrannen.&#x201C; Ließ doch Einer ein&#x017F;t den Con&#x017F;ul,<lb/>
der ihn in der Rede unterbrochen, ins Gefängniß werfen, ein<lb/>
anderer gar beide Con&#x017F;uln, ein dritter neun &#x017F;einer Collegen le-<lb/>
bendig verbrennen!<note place="foot" n="419)"><hi rendition="#aq">Val. Max. VI. 3, 2. IX. 5, 2. Cic. de leg. III. c. 9. Aur. Vict.<lb/>
de vir. ill. 66. §. 9.</hi></note></p><lb/>
                    <p>Das Ueberra&#x017F;chende an die&#x017F;en Gewaltverhältni&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t nicht<lb/>
&#x017F;owohl die außerordentlich weite Er&#x017F;treckung der Gewalt, als<lb/>
der Um&#x017F;tand, daß &#x017F;elb&#x017F;t die exorbitante&#x017F;ten Befugni&#x017F;&#x017F;e an gar<lb/>
keine Voraus&#x017F;etzungen geknüpft &#x017F;ind. Es gilt hier die&#x017F;elbe Be-<lb/>
merkung, die ich S. 149 hin&#x017F;ichtlich der gleichen Er&#x017F;cheinung<lb/>
auf dem Gebiete des Privatrechts gemacht habe.<note place="foot" n="420)">Ich könnte hier noch auf die Vormund&#x017F;chaft des ältern Rechts ver-<lb/>
wei&#x017F;en, deren ich dort zu gedenken keine Veranla&#x017F;&#x017F;ung fand. Die Charakte-<lb/>
ri&#x017F;tik der öffentlichen Gewalten paßt fa&#x017F;t Zug für Zug auch auf &#x017F;ie. Sie war<lb/>
bekanntlich im ältern Recht ein Gewaltverhältniß (<hi rendition="#aq">jus in capite libero</hi>), und<lb/>
zwar ein rechtlich &#x017F;ehr freies, der Vormund war durch keine Vor&#x017F;chriften und<lb/>
Be&#x017F;chränkungen gebunden und konnte er&#x017F;t nach Niederlegung &#x017F;eines Amts zur<lb/>
Verantwortung gezogen werden.</note> Die &#x017F;till-<lb/>
&#x017F;chweigende Bedingung für die Ausübung aller jener Befugni&#x017F;&#x017F;e<lb/>
i&#x017F;t die, daß in dem concreten Fall die Voraus&#x017F;etzungen vorlie-<lb/>
gen, die einen Gebrauch der&#x017F;elben rechtfertigen. Wie aber die<lb/>
Voraus&#x017F;etzungen be&#x017F;chaffen &#x017F;ein &#x017F;ollen, und ob &#x017F;ie wirklich vor-<lb/>
handen &#x017F;ind, das i&#x017F;t auch hier lediglich dem Urtheil des Inne-<lb/>
habers der Gewalt anheimge&#x017F;tellt. Er kann einen Mißgriff be-<lb/>
gehen &#x2014; gewiß &#x2014; aber dafür i&#x017F;t ihm anderer&#x017F;eits auch die<lb/>
Möglichkeit der Wahl des &#x201E;Be&#x017F;ten&#x201C; d. h. einer rein individuel-<lb/>
len, durch keine Ge&#x017F;etze be&#x017F;chränkten Beurtheilung des einzelnen<lb/>
Falls offen gela&#x017F;&#x017F;en. Selb&#x017F;t wenn jene Gefahr nicht durch<lb/>
Gründe, von denen gleich die Rede &#x017F;ein wird, um ein beträcht-<lb/>
liches vermindert worden wäre, &#x017F;o mochten &#x017F;ich die Römer mit<lb/>
dem Ge&#x017F;ichtspunkt trö&#x017F;ten, den Cicero bei der Beurtheilung der<lb/>
tribuniti&#x017F;chen Gewalt auf&#x017F;tellte, nämlich daß das Schlechte der<lb/></p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[277/0291] B. Stellung der Magiſtratur. — Machtfülle, Sinn derſelben. §. 35. Zeit ernannte Tyrannen.“ Ließ doch Einer einſt den Conſul, der ihn in der Rede unterbrochen, ins Gefängniß werfen, ein anderer gar beide Conſuln, ein dritter neun ſeiner Collegen le- bendig verbrennen! 419) Das Ueberraſchende an dieſen Gewaltverhältniſſen iſt nicht ſowohl die außerordentlich weite Erſtreckung der Gewalt, als der Umſtand, daß ſelbſt die exorbitanteſten Befugniſſe an gar keine Vorausſetzungen geknüpft ſind. Es gilt hier dieſelbe Be- merkung, die ich S. 149 hinſichtlich der gleichen Erſcheinung auf dem Gebiete des Privatrechts gemacht habe. 420) Die ſtill- ſchweigende Bedingung für die Ausübung aller jener Befugniſſe iſt die, daß in dem concreten Fall die Vorausſetzungen vorlie- gen, die einen Gebrauch derſelben rechtfertigen. Wie aber die Vorausſetzungen beſchaffen ſein ſollen, und ob ſie wirklich vor- handen ſind, das iſt auch hier lediglich dem Urtheil des Inne- habers der Gewalt anheimgeſtellt. Er kann einen Mißgriff be- gehen — gewiß — aber dafür iſt ihm andererſeits auch die Möglichkeit der Wahl des „Beſten“ d. h. einer rein individuel- len, durch keine Geſetze beſchränkten Beurtheilung des einzelnen Falls offen gelaſſen. Selbſt wenn jene Gefahr nicht durch Gründe, von denen gleich die Rede ſein wird, um ein beträcht- liches vermindert worden wäre, ſo mochten ſich die Römer mit dem Geſichtspunkt tröſten, den Cicero bei der Beurtheilung der tribunitiſchen Gewalt aufſtellte, nämlich daß das Schlechte der 419) Val. Max. VI. 3, 2. IX. 5, 2. Cic. de leg. III. c. 9. Aur. Vict. de vir. ill. 66. §. 9. 420) Ich könnte hier noch auf die Vormundſchaft des ältern Rechts ver- weiſen, deren ich dort zu gedenken keine Veranlaſſung fand. Die Charakte- riſtik der öffentlichen Gewalten paßt faſt Zug für Zug auch auf ſie. Sie war bekanntlich im ältern Recht ein Gewaltverhältniß (jus in capite libero), und zwar ein rechtlich ſehr freies, der Vormund war durch keine Vorſchriften und Beſchränkungen gebunden und konnte erſt nach Niederlegung ſeines Amts zur Verantwortung gezogen werden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/291
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/291>, abgerufen am 22.11.2024.