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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt -- Plastik des Rechts -- §. 23.
mung und der Testamentserrichtung das Resultat der Angst und
des Mißtrauens -- ebenso sehr ein Zeichen der spätern Zeit, wie
umgekehrt der Personalcredit mit seiner Publicität der Vermö-
gensverhältnisse und die Oeffentlichkeit der Abstimmung und
Testamentserrichtung ein Zeichen der frühern. Indem wir als
allgemein bekannt voraussetzen, in welchem Grade die Oeffent-
lichkeit das ganze politische Leben der Römer durchdrang,
machen wir schließlich nur noch darauf aufmerksam, wie diese
Eigenschaft sich auch in den Verbrechen äußerte. Das ältere
Rom kannte nicht die heimlichen Schurken und Verbrecher,
gegen die das spätere sich zu wehren hatte, die Erbschleicher,
Giftmischer, die Fälscher, Betrüger, Denuncianten u. s. w.
Mord, Todtschlag, Raub, Gewalt, Diebstahl u. s. w. waren
die Verbrechen der alten Zeit.

So hat sich uns also die Oeffentlichkeit als ein Grundzug
der alten Zeit bewährt. Es ist wohl kaum nöthig, darauf hinzu-
weisen, welches Streiflicht sie auf den sittlichen und socialen Zu-
stand des Volks wirft, und welche Vortheile sie mit sich führte.
Hervorgegangen ist sie, wie es mir scheint, aus der ursprünglichen
Innigkeit der Verbindung zwischen dem Individuum und der
Gemeinde, sie ist, dürfte man sagen, nur die äußere Erschei-
nungsform der primitiven Gemeinschaftlichkeit des Lebens und
der Interessen. Sie setzte ein gutes Gewissen und moralischen
Muth voraus und führte eine große Sicherheit des Verkehrs
wie der Rechtspflege in ihrem Gefolge mit sich.

Eine zweite Eigenschaft, die uns bei der äußeren Betrach-
tung des ältern Rechts sofort in die Augen springt, ist die Pla-
stik desselben. Die Plastik des Rechts äußert sich in den für den
Rechtsverkehr vorgeschriebenen Formen, und ihr praktischer
Nutzen
besteht darin, die innerliche Verschiedenheit äußerlich
darzustellen, das Innere gewissermaßen an die Oberfläche zu
rücken. Nur hiernach, nicht nach der Quantität und dem phy-
siognomischen Ausdruck und Zuschnitt der verschiedenen Formen
beurtheilt sich ihr Werth vom praktischen Standpunkt aus. Es

I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt — Plaſtik des Rechts — §. 23.
mung und der Teſtamentserrichtung das Reſultat der Angſt und
des Mißtrauens — ebenſo ſehr ein Zeichen der ſpätern Zeit, wie
umgekehrt der Perſonalcredit mit ſeiner Publicität der Vermö-
gensverhältniſſe und die Oeffentlichkeit der Abſtimmung und
Teſtamentserrichtung ein Zeichen der frühern. Indem wir als
allgemein bekannt vorausſetzen, in welchem Grade die Oeffent-
lichkeit das ganze politiſche Leben der Römer durchdrang,
machen wir ſchließlich nur noch darauf aufmerkſam, wie dieſe
Eigenſchaft ſich auch in den Verbrechen äußerte. Das ältere
Rom kannte nicht die heimlichen Schurken und Verbrecher,
gegen die das ſpätere ſich zu wehren hatte, die Erbſchleicher,
Giftmiſcher, die Fälſcher, Betrüger, Denuncianten u. ſ. w.
Mord, Todtſchlag, Raub, Gewalt, Diebſtahl u. ſ. w. waren
die Verbrechen der alten Zeit.

So hat ſich uns alſo die Oeffentlichkeit als ein Grundzug
der alten Zeit bewährt. Es iſt wohl kaum nöthig, darauf hinzu-
weiſen, welches Streiflicht ſie auf den ſittlichen und ſocialen Zu-
ſtand des Volks wirft, und welche Vortheile ſie mit ſich führte.
Hervorgegangen iſt ſie, wie es mir ſcheint, aus der urſprünglichen
Innigkeit der Verbindung zwiſchen dem Individuum und der
Gemeinde, ſie iſt, dürfte man ſagen, nur die äußere Erſchei-
nungsform der primitiven Gemeinſchaftlichkeit des Lebens und
der Intereſſen. Sie ſetzte ein gutes Gewiſſen und moraliſchen
Muth voraus und führte eine große Sicherheit des Verkehrs
wie der Rechtspflege in ihrem Gefolge mit ſich.

Eine zweite Eigenſchaft, die uns bei der äußeren Betrach-
tung des ältern Rechts ſofort in die Augen ſpringt, iſt die Pla-
ſtik deſſelben. Die Plaſtik des Rechts äußert ſich in den für den
Rechtsverkehr vorgeſchriebenen Formen, und ihr praktiſcher
Nutzen
beſteht darin, die innerliche Verſchiedenheit äußerlich
darzuſtellen, das Innere gewiſſermaßen an die Oberfläche zu
rücken. Nur hiernach, nicht nach der Quantität und dem phy-
ſiognomiſchen Ausdruck und Zuſchnitt der verſchiedenen Formen
beurtheilt ſich ihr Werth vom praktiſchen Standpunkt aus. Es

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[15/0029] I. Aeußerer Eindruck der Rechtswelt — Plaſtik des Rechts — §. 23. mung und der Teſtamentserrichtung das Reſultat der Angſt und des Mißtrauens — ebenſo ſehr ein Zeichen der ſpätern Zeit, wie umgekehrt der Perſonalcredit mit ſeiner Publicität der Vermö- gensverhältniſſe und die Oeffentlichkeit der Abſtimmung und Teſtamentserrichtung ein Zeichen der frühern. Indem wir als allgemein bekannt vorausſetzen, in welchem Grade die Oeffent- lichkeit das ganze politiſche Leben der Römer durchdrang, machen wir ſchließlich nur noch darauf aufmerkſam, wie dieſe Eigenſchaft ſich auch in den Verbrechen äußerte. Das ältere Rom kannte nicht die heimlichen Schurken und Verbrecher, gegen die das ſpätere ſich zu wehren hatte, die Erbſchleicher, Giftmiſcher, die Fälſcher, Betrüger, Denuncianten u. ſ. w. Mord, Todtſchlag, Raub, Gewalt, Diebſtahl u. ſ. w. waren die Verbrechen der alten Zeit. So hat ſich uns alſo die Oeffentlichkeit als ein Grundzug der alten Zeit bewährt. Es iſt wohl kaum nöthig, darauf hinzu- weiſen, welches Streiflicht ſie auf den ſittlichen und ſocialen Zu- ſtand des Volks wirft, und welche Vortheile ſie mit ſich führte. Hervorgegangen iſt ſie, wie es mir ſcheint, aus der urſprünglichen Innigkeit der Verbindung zwiſchen dem Individuum und der Gemeinde, ſie iſt, dürfte man ſagen, nur die äußere Erſchei- nungsform der primitiven Gemeinſchaftlichkeit des Lebens und der Intereſſen. Sie ſetzte ein gutes Gewiſſen und moraliſchen Muth voraus und führte eine große Sicherheit des Verkehrs wie der Rechtspflege in ihrem Gefolge mit ſich. Eine zweite Eigenſchaft, die uns bei der äußeren Betrach- tung des ältern Rechts ſofort in die Augen ſpringt, iſt die Pla- ſtik deſſelben. Die Plaſtik des Rechts äußert ſich in den für den Rechtsverkehr vorgeſchriebenen Formen, und ihr praktiſcher Nutzen beſteht darin, die innerliche Verſchiedenheit äußerlich darzuſtellen, das Innere gewiſſermaßen an die Oberfläche zu rücken. Nur hiernach, nicht nach der Quantität und dem phy- ſiognomiſchen Ausdruck und Zuſchnitt der verſchiedenen Formen beurtheilt ſich ihr Werth vom praktiſchen Standpunkt aus. Es

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/29>, abgerufen am 23.11.2024.