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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ihnen unterzieht, verzichtet von vornherein auf freie Thätigkeit;
in der Stellung und Aufgabe selbst liegt Nichts, was ein An-
recht darauf ertheilen, Nichts mithin, was das Subjekt inner-
lich mit ihr entzweien könnte. Anders aber, wenn die Aufgabe
ihrer Natur nach eine selbständige Thätigkeit voraussetzt, diese
Selbständigkeit aber aus Mißtrauen so viel wie möglich be-
schränkt und beschnitten ist, und das ist ja der Fall, von dem
wir hier reden. Eine Gewalt und damit die Ansprüche, die sie
erweckt, zu gewähren oder zu dulden, ihr aber von allen Seiten
die Möglichkeit einer spontanen Bewegung abzuschneiden und
sie dadurch sich selbst zu verleiden; die Lust, Liebe und Hin-
gebung an die Aufgabe in der Geburt zu ersticken; in dem ge-
wöhnlichen Charakter die Macht der Persönlichkeit zu ertödten
und das Gefühl, Stück einer Maschine, willenloses Werkzeug
des Gesetzes oder eines höhern Willens zu sein, an die Stelle
zu setzen; in dem kräftigen Charakter einen ewigen Groll über
den innern Widerspruch zwischen der Aufgabe und den Mitteln,
dem Sollen und dem Dürfen und einen beständigen Reiz zur
Uebertretung der Beschränkungen zu unterhalten -- dahin führt
die kurzsichtige Politik jenes Systems, von dem hier die Rede ist.

Die römische Politik war hier weitsichtiger. Die Römer
wußten, daß ein mächtiger Staat kraftvoller Werkzeuge bedarf,
ein Staat mit gebundenen Gliedern nichts Großes zu leisten
vermag, und weder die Angst vor der Möglichkeit des Miß-
brauchs, noch ihr Freiheitsgefühl hielt sie ab, die Magistratu-
ren dem entsprechend mit der genügenden Gewalt auszustatten.
In allen Verhältnissen an eine energische Machtentwickelung
gewohnt, würden sie am wenigsten an der Spitze ihres Gemein-
wesens die Schwäche und Ohnmacht ertragen haben. Nicht
ein devotes, ängstliches, anspruchsloses Auftreten, sondern ein
gebieterisches, königliches Benehmen wünschte das Volk von
seinen Beamten; die Macht und Majestät des Staats selbst
sollte in ihnen sichtbar werden. Darum räumte es ihnen bereit-
willig zu diesem Zwecke die nöthige Macht und Stellung ein,

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ihnen unterzieht, verzichtet von vornherein auf freie Thätigkeit;
in der Stellung und Aufgabe ſelbſt liegt Nichts, was ein An-
recht darauf ertheilen, Nichts mithin, was das Subjekt inner-
lich mit ihr entzweien könnte. Anders aber, wenn die Aufgabe
ihrer Natur nach eine ſelbſtändige Thätigkeit vorausſetzt, dieſe
Selbſtändigkeit aber aus Mißtrauen ſo viel wie möglich be-
ſchränkt und beſchnitten iſt, und das iſt ja der Fall, von dem
wir hier reden. Eine Gewalt und damit die Anſprüche, die ſie
erweckt, zu gewähren oder zu dulden, ihr aber von allen Seiten
die Möglichkeit einer ſpontanen Bewegung abzuſchneiden und
ſie dadurch ſich ſelbſt zu verleiden; die Luſt, Liebe und Hin-
gebung an die Aufgabe in der Geburt zu erſticken; in dem ge-
wöhnlichen Charakter die Macht der Perſönlichkeit zu ertödten
und das Gefühl, Stück einer Maſchine, willenloſes Werkzeug
des Geſetzes oder eines höhern Willens zu ſein, an die Stelle
zu ſetzen; in dem kräftigen Charakter einen ewigen Groll über
den innern Widerſpruch zwiſchen der Aufgabe und den Mitteln,
dem Sollen und dem Dürfen und einen beſtändigen Reiz zur
Uebertretung der Beſchränkungen zu unterhalten — dahin führt
die kurzſichtige Politik jenes Syſtems, von dem hier die Rede iſt.

Die römiſche Politik war hier weitſichtiger. Die Römer
wußten, daß ein mächtiger Staat kraftvoller Werkzeuge bedarf,
ein Staat mit gebundenen Gliedern nichts Großes zu leiſten
vermag, und weder die Angſt vor der Möglichkeit des Miß-
brauchs, noch ihr Freiheitsgefühl hielt ſie ab, die Magiſtratu-
ren dem entſprechend mit der genügenden Gewalt auszuſtatten.
In allen Verhältniſſen an eine energiſche Machtentwickelung
gewohnt, würden ſie am wenigſten an der Spitze ihres Gemein-
weſens die Schwäche und Ohnmacht ertragen haben. Nicht
ein devotes, ängſtliches, anſpruchsloſes Auftreten, ſondern ein
gebieteriſches, königliches Benehmen wünſchte das Volk von
ſeinen Beamten; die Macht und Majeſtät des Staats ſelbſt
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willig zu dieſem Zwecke die nöthige Macht und Stellung ein,

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[272/0286] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. ihnen unterzieht, verzichtet von vornherein auf freie Thätigkeit; in der Stellung und Aufgabe ſelbſt liegt Nichts, was ein An- recht darauf ertheilen, Nichts mithin, was das Subjekt inner- lich mit ihr entzweien könnte. Anders aber, wenn die Aufgabe ihrer Natur nach eine ſelbſtändige Thätigkeit vorausſetzt, dieſe Selbſtändigkeit aber aus Mißtrauen ſo viel wie möglich be- ſchränkt und beſchnitten iſt, und das iſt ja der Fall, von dem wir hier reden. Eine Gewalt und damit die Anſprüche, die ſie erweckt, zu gewähren oder zu dulden, ihr aber von allen Seiten die Möglichkeit einer ſpontanen Bewegung abzuſchneiden und ſie dadurch ſich ſelbſt zu verleiden; die Luſt, Liebe und Hin- gebung an die Aufgabe in der Geburt zu erſticken; in dem ge- wöhnlichen Charakter die Macht der Perſönlichkeit zu ertödten und das Gefühl, Stück einer Maſchine, willenloſes Werkzeug des Geſetzes oder eines höhern Willens zu ſein, an die Stelle zu ſetzen; in dem kräftigen Charakter einen ewigen Groll über den innern Widerſpruch zwiſchen der Aufgabe und den Mitteln, dem Sollen und dem Dürfen und einen beſtändigen Reiz zur Uebertretung der Beſchränkungen zu unterhalten — dahin führt die kurzſichtige Politik jenes Syſtems, von dem hier die Rede iſt. Die römiſche Politik war hier weitſichtiger. Die Römer wußten, daß ein mächtiger Staat kraftvoller Werkzeuge bedarf, ein Staat mit gebundenen Gliedern nichts Großes zu leiſten vermag, und weder die Angſt vor der Möglichkeit des Miß- brauchs, noch ihr Freiheitsgefühl hielt ſie ab, die Magiſtratu- ren dem entſprechend mit der genügenden Gewalt auszuſtatten. In allen Verhältniſſen an eine energiſche Machtentwickelung gewohnt, würden ſie am wenigſten an der Spitze ihres Gemein- weſens die Schwäche und Ohnmacht ertragen haben. Nicht ein devotes, ängſtliches, anſpruchsloſes Auftreten, ſondern ein gebieteriſches, königliches Benehmen wünſchte das Volk von ſeinen Beamten; die Macht und Majeſtät des Staats ſelbſt ſollte in ihnen ſichtbar werden. Darum räumte es ihnen bereit- willig zu dieſem Zwecke die nöthige Macht und Stellung ein,

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/286>, abgerufen am 22.11.2024.