Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
legales Verhalten, sondern auf angemessenen umsichtigen Ge- brauch der Gewalt und Mißgriffe ziehen hier nicht minder eine Strafe nach sich, als dort die Uebertretung der Gesetze.
Den Gegensatz beider Systeme können wir auch so fassen: je- nes ist das des Mißtrauens, dieses das des Vertrauens, dort ruht alles Gewicht auf der todten Norm und Anstalt, hier auf der lebendigen Wirksamkeit der Persönlichkeit. Das alte Rom gibt uns Gelegenheit letzteres, unsere heutige Zeit ersteres kennen zu lernen. Durch alle unsere Institutionen geht ein Zug des Mißtrauens, überall flößt uns die volle Gewalt Angst ein, und wir ruhen nicht eher, bis wir ihr die Möglichkeit des Miß- brauchs entzogen haben. Es ist jene Flucht vor der Persönlich- keit und die Ueberschätzung der todten Regel und Anstalt, die ich schon früher als einen Charakterzug unserer Zeit bezeichnet habe, und der sich in allen Verhältnissen, nicht bloß in denen des öffentlichen Rechts, nachweisen läßt. Man nehme unser Beamtenwesen. Wie erdrückt ist es durch die Last von Gesetzen, Verordnungen, Instructionen, die den Beamten wie einen Blin- den bei dem kleinsten Schritt, den er macht, lenken sollen! Und wo das todte Gesetz eine Lücke läßt und damit die Gelegenheit bietet, der persönlichen Einsicht der Beamten die Entscheidung zu überlassen, entzieht das Mißtrauen ihm dieselbe wieder, in- dem sie ihn darauf beschränkt zu berichten und die Entscheidung von oben zu holen. Man nehme ferner unser Corporations- leben. Wie hat man hier aus Angst das Selbstregiment und die Selbständigkeit der Corporation untergraben und das Sy- stem der Bevormundung von Seiten des Staats an die Stelle gesetzt! Und gar unsere heutige Vormundschaft, welch ein Zerr- bild ist sie! Wie gelähmt ist der Vormund durch die Obervor- mundschaft bei jedem Schritt und Tritt, den er beabsichtigt! Anstatt alles Gewicht auf die Persönlichkeitsfrage zu legen, dafür zu sorgen, daß nur solche Individuen zu Vormün- dern genommen werden, die Vertrauen verdienen, anstatt die nöthigen Garantien in ihrer Persönlichkeit, ihrer Solvenz u. s. w.
Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
legales Verhalten, ſondern auf angemeſſenen umſichtigen Ge- brauch der Gewalt und Mißgriffe ziehen hier nicht minder eine Strafe nach ſich, als dort die Uebertretung der Geſetze.
Den Gegenſatz beider Syſteme können wir auch ſo faſſen: je- nes iſt das des Mißtrauens, dieſes das des Vertrauens, dort ruht alles Gewicht auf der todten Norm und Anſtalt, hier auf der lebendigen Wirkſamkeit der Perſönlichkeit. Das alte Rom gibt uns Gelegenheit letzteres, unſere heutige Zeit erſteres kennen zu lernen. Durch alle unſere Inſtitutionen geht ein Zug des Mißtrauens, überall flößt uns die volle Gewalt Angſt ein, und wir ruhen nicht eher, bis wir ihr die Möglichkeit des Miß- brauchs entzogen haben. Es iſt jene Flucht vor der Perſönlich- keit und die Ueberſchätzung der todten Regel und Anſtalt, die ich ſchon früher als einen Charakterzug unſerer Zeit bezeichnet habe, und der ſich in allen Verhältniſſen, nicht bloß in denen des öffentlichen Rechts, nachweiſen läßt. Man nehme unſer Beamtenweſen. Wie erdrückt iſt es durch die Laſt von Geſetzen, Verordnungen, Inſtructionen, die den Beamten wie einen Blin- den bei dem kleinſten Schritt, den er macht, lenken ſollen! Und wo das todte Geſetz eine Lücke läßt und damit die Gelegenheit bietet, der perſönlichen Einſicht der Beamten die Entſcheidung zu überlaſſen, entzieht das Mißtrauen ihm dieſelbe wieder, in- dem ſie ihn darauf beſchränkt zu berichten und die Entſcheidung von oben zu holen. Man nehme ferner unſer Corporations- leben. Wie hat man hier aus Angſt das Selbſtregiment und die Selbſtändigkeit der Corporation untergraben und das Sy- ſtem der Bevormundung von Seiten des Staats an die Stelle geſetzt! Und gar unſere heutige Vormundſchaft, welch ein Zerr- bild iſt ſie! Wie gelähmt iſt der Vormund durch die Obervor- mundſchaft bei jedem Schritt und Tritt, den er beabſichtigt! Anſtatt alles Gewicht auf die Perſönlichkeitsfrage zu legen, dafür zu ſorgen, daß nur ſolche Individuen zu Vormün- dern genommen werden, die Vertrauen verdienen, anſtatt die nöthigen Garantien in ihrer Perſönlichkeit, ihrer Solvenz u. ſ. w.
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Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
legales Verhalten, ſondern auf angemeſſenen umſichtigen Ge-
brauch der Gewalt und Mißgriffe ziehen hier nicht minder eine
Strafe nach ſich, als dort die Uebertretung der Geſetze.
Den Gegenſatz beider Syſteme können wir auch ſo faſſen: je-
nes iſt das des Mißtrauens, dieſes das des Vertrauens, dort ruht
alles Gewicht auf der todten Norm und Anſtalt, hier auf der
lebendigen Wirkſamkeit der Perſönlichkeit. Das alte Rom gibt
uns Gelegenheit letzteres, unſere heutige Zeit erſteres kennen
zu lernen. Durch alle unſere Inſtitutionen geht ein Zug des
Mißtrauens, überall flößt uns die volle Gewalt Angſt ein, und
wir ruhen nicht eher, bis wir ihr die Möglichkeit des Miß-
brauchs entzogen haben. Es iſt jene Flucht vor der Perſönlich-
keit und die Ueberſchätzung der todten Regel und Anſtalt, die
ich ſchon früher als einen Charakterzug unſerer Zeit bezeichnet
habe, und der ſich in allen Verhältniſſen, nicht bloß in denen
des öffentlichen Rechts, nachweiſen läßt. Man nehme unſer
Beamtenweſen. Wie erdrückt iſt es durch die Laſt von Geſetzen,
Verordnungen, Inſtructionen, die den Beamten wie einen Blin-
den bei dem kleinſten Schritt, den er macht, lenken ſollen! Und
wo das todte Geſetz eine Lücke läßt und damit die Gelegenheit
bietet, der perſönlichen Einſicht der Beamten die Entſcheidung
zu überlaſſen, entzieht das Mißtrauen ihm dieſelbe wieder, in-
dem ſie ihn darauf beſchränkt zu berichten und die Entſcheidung
von oben zu holen. Man nehme ferner unſer Corporations-
leben. Wie hat man hier aus Angſt das Selbſtregiment und
die Selbſtändigkeit der Corporation untergraben und das Sy-
ſtem der Bevormundung von Seiten des Staats an die Stelle
geſetzt! Und gar unſere heutige Vormundſchaft, welch ein Zerr-
bild iſt ſie! Wie gelähmt iſt der Vormund durch die Obervor-
mundſchaft bei jedem Schritt und Tritt, den er beabſichtigt!
Anſtatt alles Gewicht auf die Perſönlichkeitsfrage zu
legen, dafür zu ſorgen, daß nur ſolche Individuen zu Vormün-
dern genommen werden, die Vertrauen verdienen, anſtatt die
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/284>, abgerufen am 16.02.2025.
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