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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
liens vorzugsweise nach Rom zusammen, denn Rom war eine
Stadt für Proletarier, wie sie nie dagewesen. Hier war es
möglich mit Nichts und ohne Arbeit eine in gewissem Sinn be-
hagliche Existenz zu führen, hier gab es ewige Zerstreuungen,
Spiele, Feste, Spenden von Seiten des Staats und der Rei-
chen. Hier war wenigstens das Elend glänzend, denn auch
der Aermste sonnte sich in dem Glanz und der Herrlichkeit der
römischen Macht, an der ja auch ihm ein Theil gebührte; auch
der Bettler kam hier zu dem Gefühl seines Werthes als römi-
schen Bürgers, und konnte in den Tributcomitien sein Stimm-
recht ausüben und -- verkaufen.

Die Verantwortlichkeit für eine solche Existenz konnte der
Einzelne zu einem beträchtlichen Theil von sich ablehnen und
dem Staat oder den socialen Einrichtungen zuschieben. Was
geschah nun von Seiten des Staats, um das Uebel zu heben
oder zu lindern? Bevor wir diese Frage beantworten, soll noch
auf eine Erscheinung des römischen Lebens aufmerksam gemacht
werden, die hiermit im engsten Zusammenhang steht, und die
denselben Grund und Zweck hatte, wie die Fürsorge von Seiten
des Staats, ich meine die Liberalität der römischen Großen ge-
gen die untern Stände. Dieselbe gewann im Lauf der Zeit eine
so kolossale Ausdehnung, daß uns jeder Vergleich dafür fehlt.
Den Grund derselben kann ich nicht in dem bloßen Streben nach
Volksgunst und der Bestechung des Volks zum Zweck der Wah-
len erblicken -- warum wiederholte sich die Erscheinung nicht in
andern Republiken? -- und noch weniger läßt sie sich aus dem
Motiv der Wohlthätigkeit ableiten, denn diese Eigenschaft lag
bekanntlich nicht im Charakter der Römer. Der tiefere Grund
dieser Erscheinung ist vielmehr in den oben geschilderten Ver-
hältnissen zu suchen. Es galt als sociale Pflicht der vermögen-
den Klasse, das Uebergewicht, das jene Einrichtungen ihr ge-
währten, durch Freigebigkeit gegen die Klasse, welche darunter
zu leiden hatte, wieder auszugleichen, das Unrecht, das darin
enthalten war, einigermaßen aufzuheben und erträglich zu

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
liens vorzugsweiſe nach Rom zuſammen, denn Rom war eine
Stadt für Proletarier, wie ſie nie dageweſen. Hier war es
möglich mit Nichts und ohne Arbeit eine in gewiſſem Sinn be-
hagliche Exiſtenz zu führen, hier gab es ewige Zerſtreuungen,
Spiele, Feſte, Spenden von Seiten des Staats und der Rei-
chen. Hier war wenigſtens das Elend glänzend, denn auch
der Aermſte ſonnte ſich in dem Glanz und der Herrlichkeit der
römiſchen Macht, an der ja auch ihm ein Theil gebührte; auch
der Bettler kam hier zu dem Gefühl ſeines Werthes als römi-
ſchen Bürgers, und konnte in den Tributcomitien ſein Stimm-
recht ausüben und — verkaufen.

Die Verantwortlichkeit für eine ſolche Exiſtenz konnte der
Einzelne zu einem beträchtlichen Theil von ſich ablehnen und
dem Staat oder den ſocialen Einrichtungen zuſchieben. Was
geſchah nun von Seiten des Staats, um das Uebel zu heben
oder zu lindern? Bevor wir dieſe Frage beantworten, ſoll noch
auf eine Erſcheinung des römiſchen Lebens aufmerkſam gemacht
werden, die hiermit im engſten Zuſammenhang ſteht, und die
denſelben Grund und Zweck hatte, wie die Fürſorge von Seiten
des Staats, ich meine die Liberalität der römiſchen Großen ge-
gen die untern Stände. Dieſelbe gewann im Lauf der Zeit eine
ſo koloſſale Ausdehnung, daß uns jeder Vergleich dafür fehlt.
Den Grund derſelben kann ich nicht in dem bloßen Streben nach
Volksgunſt und der Beſtechung des Volks zum Zweck der Wah-
len erblicken — warum wiederholte ſich die Erſcheinung nicht in
andern Republiken? — und noch weniger läßt ſie ſich aus dem
Motiv der Wohlthätigkeit ableiten, denn dieſe Eigenſchaft lag
bekanntlich nicht im Charakter der Römer. Der tiefere Grund
dieſer Erſcheinung iſt vielmehr in den oben geſchilderten Ver-
hältniſſen zu ſuchen. Es galt als ſociale Pflicht der vermögen-
den Klaſſe, das Uebergewicht, das jene Einrichtungen ihr ge-
währten, durch Freigebigkeit gegen die Klaſſe, welche darunter
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enthalten war, einigermaßen aufzuheben und erträglich zu

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[256/0270] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. liens vorzugsweiſe nach Rom zuſammen, denn Rom war eine Stadt für Proletarier, wie ſie nie dageweſen. Hier war es möglich mit Nichts und ohne Arbeit eine in gewiſſem Sinn be- hagliche Exiſtenz zu führen, hier gab es ewige Zerſtreuungen, Spiele, Feſte, Spenden von Seiten des Staats und der Rei- chen. Hier war wenigſtens das Elend glänzend, denn auch der Aermſte ſonnte ſich in dem Glanz und der Herrlichkeit der römiſchen Macht, an der ja auch ihm ein Theil gebührte; auch der Bettler kam hier zu dem Gefühl ſeines Werthes als römi- ſchen Bürgers, und konnte in den Tributcomitien ſein Stimm- recht ausüben und — verkaufen. Die Verantwortlichkeit für eine ſolche Exiſtenz konnte der Einzelne zu einem beträchtlichen Theil von ſich ablehnen und dem Staat oder den ſocialen Einrichtungen zuſchieben. Was geſchah nun von Seiten des Staats, um das Uebel zu heben oder zu lindern? Bevor wir dieſe Frage beantworten, ſoll noch auf eine Erſcheinung des römiſchen Lebens aufmerkſam gemacht werden, die hiermit im engſten Zuſammenhang ſteht, und die denſelben Grund und Zweck hatte, wie die Fürſorge von Seiten des Staats, ich meine die Liberalität der römiſchen Großen ge- gen die untern Stände. Dieſelbe gewann im Lauf der Zeit eine ſo koloſſale Ausdehnung, daß uns jeder Vergleich dafür fehlt. Den Grund derſelben kann ich nicht in dem bloßen Streben nach Volksgunſt und der Beſtechung des Volks zum Zweck der Wah- len erblicken — warum wiederholte ſich die Erſcheinung nicht in andern Republiken? — und noch weniger läßt ſie ſich aus dem Motiv der Wohlthätigkeit ableiten, denn dieſe Eigenſchaft lag bekanntlich nicht im Charakter der Römer. Der tiefere Grund dieſer Erſcheinung iſt vielmehr in den oben geſchilderten Ver- hältniſſen zu ſuchen. Es galt als ſociale Pflicht der vermögen- den Klaſſe, das Uebergewicht, das jene Einrichtungen ihr ge- währten, durch Freigebigkeit gegen die Klaſſe, welche darunter zu leiden hatte, wieder auszugleichen, das Unrecht, das darin enthalten war, einigermaßen aufzuheben und erträglich zu

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/270>, abgerufen am 25.11.2024.