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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. Allgem. Charakteristik.
schuldigte selbst geht frei einher und benutzt die Zeit im Interesse
seiner Vertheidigung. Kein Kerker entzieht ihn der Oeffentlich-
keit, keine Scene des blutigen Dramas spielt bei verschlossenen
Thüren. Der Tag der Entscheidung ist gekommen, das Volk,
längst vorbereitet über die Sache, sitzt zu Gericht. Nie hat es
eine majestätischere richterliche Versammlung gegeben, nie wohl
eine Oeffentlichkeit, die für die Lüge so erdrückend, für die Wahr-
heit so erhebend wirken mußte, wie diese. Die Verhandlungen
sind beendet, und es erfolgt die Abstimmung. Auch dieser Akt ist
charakteristisch durch seine Oeffentlichkeit, d. h. er erfolgt münd-
lich; jeder hat den Muth, oder soll den Muth haben, seine Mei-
nung frei zu gestehen. In späterer Zeit änderte sich dies; um
der Unselbständigkeit der Stimmenden zu Hülfe zu kommen,
ward in der ersten Hälfte des siebenten Jahrhunderts sowohl
bei den Volksgerichten als bei andern Volksversammlungen die
heimliche d. h. schriftliche Abstimmung (per tabellas) eingeführt.

Die Oeffentlichkeit des Rechts verkehrs 4) ist uns aus
frühern Ausführungen schon größtentheils bekannt; ich erinnere
an die öffentlich garantirten Geschäfte (B. 1 S. 206 u. fl.),
die Vornahme derselben vor der Volksversammlung oder den
5 das Volk vertretenden Zeugen (mancipatio, nexum), und vor
dem Prätor (in jure cessio u. s. w.). 5) Als besonders charak-
teristisch hebe ich die Oeffentlichkeit der Testamente hervor, die
sich, als die Errichtung der Testamente in den Comitien abge-
kommen, in vermindertem Maße noch in dem mündlichen Man-

4) Gneist (Die formellen Verträge des neuern römischen Obligationen-
rechts S. 483--485) hat mit Recht auf den Gegensatz aufmerksam gemacht,
den in dieser Beziehung das griechische Recht bildet, "dessen üblichste Form
(Deponirung verschlossener Urkunden) offenbar darauf berechnet war, das Ge-
schäft nöthigenfalls den Augen Dritter zu verbergen."
5) Als einzelnes Beispiel möge noch genannt sein die bei der Bürgschaft
vorgeschriebene Oeffentlichkeit; s. Gajus III §. 123: praedicat palam et de-
claret et de qua re satis accipiat et quot sponsores aut fidepromissores
in eam obligationem accepturus sit.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik.
ſchuldigte ſelbſt geht frei einher und benutzt die Zeit im Intereſſe
ſeiner Vertheidigung. Kein Kerker entzieht ihn der Oeffentlich-
keit, keine Scene des blutigen Dramas ſpielt bei verſchloſſenen
Thüren. Der Tag der Entſcheidung iſt gekommen, das Volk,
längſt vorbereitet über die Sache, ſitzt zu Gericht. Nie hat es
eine majeſtätiſchere richterliche Verſammlung gegeben, nie wohl
eine Oeffentlichkeit, die für die Lüge ſo erdrückend, für die Wahr-
heit ſo erhebend wirken mußte, wie dieſe. Die Verhandlungen
ſind beendet, und es erfolgt die Abſtimmung. Auch dieſer Akt iſt
charakteriſtiſch durch ſeine Oeffentlichkeit, d. h. er erfolgt münd-
lich; jeder hat den Muth, oder ſoll den Muth haben, ſeine Mei-
nung frei zu geſtehen. In ſpäterer Zeit änderte ſich dies; um
der Unſelbſtändigkeit der Stimmenden zu Hülfe zu kommen,
ward in der erſten Hälfte des ſiebenten Jahrhunderts ſowohl
bei den Volksgerichten als bei andern Volksverſammlungen die
heimliche d. h. ſchriftliche Abſtimmung (per tabellas) eingeführt.

Die Oeffentlichkeit des Rechts verkehrs 4) iſt uns aus
frühern Ausführungen ſchon größtentheils bekannt; ich erinnere
an die öffentlich garantirten Geſchäfte (B. 1 S. 206 u. fl.),
die Vornahme derſelben vor der Volksverſammlung oder den
5 das Volk vertretenden Zeugen (mancipatio, nexum), und vor
dem Prätor (in jure cessio u. ſ. w.). 5) Als beſonders charak-
teriſtiſch hebe ich die Oeffentlichkeit der Teſtamente hervor, die
ſich, als die Errichtung der Teſtamente in den Comitien abge-
kommen, in vermindertem Maße noch in dem mündlichen Man-

4) Gneiſt (Die formellen Verträge des neuern römiſchen Obligationen-
rechts S. 483—485) hat mit Recht auf den Gegenſatz aufmerkſam gemacht,
den in dieſer Beziehung das griechiſche Recht bildet, „deſſen üblichſte Form
(Deponirung verſchloſſener Urkunden) offenbar darauf berechnet war, das Ge-
ſchäft nöthigenfalls den Augen Dritter zu verbergen.“
5) Als einzelnes Beiſpiel möge noch genannt ſein die bei der Bürgſchaft
vorgeſchriebene Oeffentlichkeit; ſ. Gajus III §. 123: praedicat palam et de-
claret et de qua re satis accipiat et quot sponsores aut fidepromissores
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[12/0026] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik. ſchuldigte ſelbſt geht frei einher und benutzt die Zeit im Intereſſe ſeiner Vertheidigung. Kein Kerker entzieht ihn der Oeffentlich- keit, keine Scene des blutigen Dramas ſpielt bei verſchloſſenen Thüren. Der Tag der Entſcheidung iſt gekommen, das Volk, längſt vorbereitet über die Sache, ſitzt zu Gericht. Nie hat es eine majeſtätiſchere richterliche Verſammlung gegeben, nie wohl eine Oeffentlichkeit, die für die Lüge ſo erdrückend, für die Wahr- heit ſo erhebend wirken mußte, wie dieſe. Die Verhandlungen ſind beendet, und es erfolgt die Abſtimmung. Auch dieſer Akt iſt charakteriſtiſch durch ſeine Oeffentlichkeit, d. h. er erfolgt münd- lich; jeder hat den Muth, oder ſoll den Muth haben, ſeine Mei- nung frei zu geſtehen. In ſpäterer Zeit änderte ſich dies; um der Unſelbſtändigkeit der Stimmenden zu Hülfe zu kommen, ward in der erſten Hälfte des ſiebenten Jahrhunderts ſowohl bei den Volksgerichten als bei andern Volksverſammlungen die heimliche d. h. ſchriftliche Abſtimmung (per tabellas) eingeführt. Die Oeffentlichkeit des Rechts verkehrs 4) iſt uns aus frühern Ausführungen ſchon größtentheils bekannt; ich erinnere an die öffentlich garantirten Geſchäfte (B. 1 S. 206 u. fl.), die Vornahme derſelben vor der Volksverſammlung oder den 5 das Volk vertretenden Zeugen (mancipatio, nexum), und vor dem Prätor (in jure cessio u. ſ. w.). 5) Als beſonders charak- teriſtiſch hebe ich die Oeffentlichkeit der Teſtamente hervor, die ſich, als die Errichtung der Teſtamente in den Comitien abge- kommen, in vermindertem Maße noch in dem mündlichen Man- 4) Gneiſt (Die formellen Verträge des neuern römiſchen Obligationen- rechts S. 483—485) hat mit Recht auf den Gegenſatz aufmerkſam gemacht, den in dieſer Beziehung das griechiſche Recht bildet, „deſſen üblichſte Form (Deponirung verſchloſſener Urkunden) offenbar darauf berechnet war, das Ge- ſchäft nöthigenfalls den Augen Dritter zu verbergen.“ 5) Als einzelnes Beiſpiel möge noch genannt ſein die bei der Bürgſchaft vorgeſchriebene Oeffentlichkeit; ſ. Gajus III §. 123: praedicat palam et de- claret et de qua re satis accipiat et quot sponsores aut fidepromissores in eam obligationem accepturus sit.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/26>, abgerufen am 24.11.2024.