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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Allgem. Charakteriſtik.
bald wird es unter Abweſenden auf brieflichem Wege errichtet,
bald ſogar muß ſeine Exiſtenz erſt durch Schlußfolgerungen ge-
wonnen werden. 2)

Dieſe Unſichtbarkeit der Bewegung und der Operationen des
heutigen Rechts, dieſe ſeine unplaſtiſche Natur ſoll uns hier als
Folie für das ältere römiſche Recht dienen, ohne daß wir im
übrigen verkennen wollen, daß jene Eigenſchaft, ähnlich wie der
abſtracte Charakter einer ausgebildeten Sprache eine höhere Bil-
dungsſtufe bezeichnet, als der plaſtiſche Charakter des Rechts
und die bildliche, concrete Ausdrucksweiſe der Sprache. Wie
aber letztere in dieſer ihrer unvollkommenen Geſtalt etwas un-
gemein Anziehendes hat, ſo auch das Recht. Bei beiden feſſelt
uns der Reiz der Jugendfriſche, man darf jene Eigenſchaft als
einen Vorzug der Jugend anerkennen, ohne gegen das Alter,
mit dem ſie ſich einmal nicht verträgt, ungerecht zu ſein.

Der phyſiognomiſche Ausdruck des ältern römiſchen Rechts,
den wir jetzt wieder zu geben verſuchen, iſt der Ausdruck der
Jugend des Rechts und hat daher Aehnlichkeit mit dem aller
Rechte auf derſelben Altersſtufe. Der Charakter deſſelben beſteht
namentlich in der Oeffentlichkeit des ganzen Lebens und in der
Plaſtik der Formen, in denen letzteres ſich bewegt.

Verſetzen wir uns jetzt in das alte Rom, ſo iſt das Erſte,
was uns in die Augen fällt, das helle Sonnenlicht der Oeffent-
lichkeit, das über die ganze Rechtswelt ausgebreitet iſt. Es

2) Daß die Bemerkung im Text auch auf den Prozeß Anwendung findet,
braucht wohl nicht erſt bemerkt zu werden. Der Kriminalprozeß hat freilich
durch die bekannten Reformen der Gegenwart ein anderes Aeußere bekommen,
aber noch vor kurzer Zeit führte er ſowohl wie noch heutzutage der Civilpro-
zeß eine bloß papierne Exiſtenz. Auf dem Papiere begonnen, auf dem Papiere
entſchieden boten beide kein dramatiſches Moment dar und traten ſichtbar nur in
ihren Wirkungen hervor. Man hätte der Juſtiz ſtatt des Schwertes eine Feder
zum Attribut geben mögen, denn einem Vogel waren die Federn kaum nöthi-
ger, als ihr, nur daß ſie bei ihr die entgegengeſetzten Wirkungen hervorbrach-
ten, die Schnelligkeit im umgekehrten Verhältniß zum Federn-Aufwand ſtand.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/24>, abgerufen am 21.01.2025.