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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
unmöglich das eheliche Verhältniß den Sinn gehabt haben, die
Frau nach orientalischer Weise zur Sklavin des Mannes zu
machen. Wenn irgendwo, so mußte der Einfluß der Frau sich
gerade innerhalb des Hauses bethätigen, so mußte die Achtung,
die man ihr als solcher zollte, in gesteigertem Maße der Gattin
und Mutter zu Theil werden, so muß ferner das Wesen der
Ehe in Rom nicht, wie man uns glauben machen will, ver-
kannt, sondern würdiger und reiner erfaßt worden sein, als bei
irgend einem der frühern Völker. Und dies war in der That
der Fall. Abstrahiren wir nur vorläufig von der abstract recht-
lichen Gestaltung des Verhältnisses und halten uns an die Er-
scheinung desselben im Leben und die natürliche Auffassung, die
die Römer selbst damit verbanden. Die Ehe galt als ein heili-
ges Verhältniß, sie begründete eine religiöse Gemeinschaft zwi-
schen beiden Gatten, und darum erhielt sie auch bei ihrer Ein-
gehung eine religiöse Weihe. 314) Auf diese alte Ehe paßte
die bekannte römische Definition der Ehe, 315) eine Definition,
von der ein Unkundiger glauben sollte, daß sie die christliche
Auffassung der Ehe enthalte; für die alte Zeit war sie eine
Wahrheit, für die spätere, die sie uns aufbewahrt hat, eine
bloße Reminiscenz. Der ungeheure Contrast in dem ehelichen
Leben dieser beiden Zeiten, der alten strengen Sitte und Treue
und der spätern Frivolität, grauenhaften Verwilderung und
Zügellosigkeit ist bekannt. Dort trotz der rechtlichen Trennbar-
keit der Ehe doch faktisch die äußerste Seltenheit der Eheschei-
dungen, 316) hier trotz aller Gesetze Ehebruch und Ehescheidung

314) Nicht bei der confarreatio allein. S. Roßbach a. a. O. Abschn. IV.
315) L. 1 de R. N. (23. 2): consortium omnis vitae, divini et hu-
mani juris communicatio. §. 1 I. de patr. pot. (1. 9) individuam vitae
consuetudinem continens. L. 4 Cod. de crim. expil. her. (9. 32). Livius I.

9 läßt Romulus das matrimonium als societas fortunarum omnium civita-
tisque
bezeichnen, ebenso Dionys. II. 25 koinonia ieron kai khrematon.
316) So viel folgt mindestens aus der bekannten Sage, daß die Eheschei-
dung des Sp. Carvilius (U. C. 520) die erste gewesen sein soll. Gell. XVII.
21. Val. Max. II.
1, 4.

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
unmöglich das eheliche Verhältniß den Sinn gehabt haben, die
Frau nach orientaliſcher Weiſe zur Sklavin des Mannes zu
machen. Wenn irgendwo, ſo mußte der Einfluß der Frau ſich
gerade innerhalb des Hauſes bethätigen, ſo mußte die Achtung,
die man ihr als ſolcher zollte, in geſteigertem Maße der Gattin
und Mutter zu Theil werden, ſo muß ferner das Weſen der
Ehe in Rom nicht, wie man uns glauben machen will, ver-
kannt, ſondern würdiger und reiner erfaßt worden ſein, als bei
irgend einem der frühern Völker. Und dies war in der That
der Fall. Abſtrahiren wir nur vorläufig von der abſtract recht-
lichen Geſtaltung des Verhältniſſes und halten uns an die Er-
ſcheinung deſſelben im Leben und die natürliche Auffaſſung, die
die Römer ſelbſt damit verbanden. Die Ehe galt als ein heili-
ges Verhältniß, ſie begründete eine religiöſe Gemeinſchaft zwi-
ſchen beiden Gatten, und darum erhielt ſie auch bei ihrer Ein-
gehung eine religiöſe Weihe. 314) Auf dieſe alte Ehe paßte
die bekannte römiſche Definition der Ehe, 315) eine Definition,
von der ein Unkundiger glauben ſollte, daß ſie die chriſtliche
Auffaſſung der Ehe enthalte; für die alte Zeit war ſie eine
Wahrheit, für die ſpätere, die ſie uns aufbewahrt hat, eine
bloße Reminiscenz. Der ungeheure Contraſt in dem ehelichen
Leben dieſer beiden Zeiten, der alten ſtrengen Sitte und Treue
und der ſpätern Frivolität, grauenhaften Verwilderung und
Zügelloſigkeit iſt bekannt. Dort trotz der rechtlichen Trennbar-
keit der Ehe doch faktiſch die äußerſte Seltenheit der Eheſchei-
dungen, 316) hier trotz aller Geſetze Ehebruch und Eheſcheidung

314) Nicht bei der confarreatio allein. S. Roßbach a. a. O. Abſchn. IV.
315) L. 1 de R. N. (23. 2): consortium omnis vitae, divini et hu-
mani juris communicatio. §. 1 I. de patr. pot. (1. 9) individuam vitae
consuetudinem continens. L. 4 Cod. de crim. expil. her. (9. 32). Livius I.

9 läßt Romulus das matrimonium als societas fortunarum omnium civita-
tisque
bezeichnen, ebenſo Dionys. II. 25 κοινωνία ἱεϱῶν καὶ χϱημάτων.
316) So viel folgt mindeſtens aus der bekannten Sage, daß die Eheſchei-
dung des Sp. Carvilius (U. C. 520) die erſte geweſen ſein ſoll. Gell. XVII.
21. Val. Max. II.
1, 4.
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[212/0226] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. unmöglich das eheliche Verhältniß den Sinn gehabt haben, die Frau nach orientaliſcher Weiſe zur Sklavin des Mannes zu machen. Wenn irgendwo, ſo mußte der Einfluß der Frau ſich gerade innerhalb des Hauſes bethätigen, ſo mußte die Achtung, die man ihr als ſolcher zollte, in geſteigertem Maße der Gattin und Mutter zu Theil werden, ſo muß ferner das Weſen der Ehe in Rom nicht, wie man uns glauben machen will, ver- kannt, ſondern würdiger und reiner erfaßt worden ſein, als bei irgend einem der frühern Völker. Und dies war in der That der Fall. Abſtrahiren wir nur vorläufig von der abſtract recht- lichen Geſtaltung des Verhältniſſes und halten uns an die Er- ſcheinung deſſelben im Leben und die natürliche Auffaſſung, die die Römer ſelbſt damit verbanden. Die Ehe galt als ein heili- ges Verhältniß, ſie begründete eine religiöſe Gemeinſchaft zwi- ſchen beiden Gatten, und darum erhielt ſie auch bei ihrer Ein- gehung eine religiöſe Weihe. 314) Auf dieſe alte Ehe paßte die bekannte römiſche Definition der Ehe, 315) eine Definition, von der ein Unkundiger glauben ſollte, daß ſie die chriſtliche Auffaſſung der Ehe enthalte; für die alte Zeit war ſie eine Wahrheit, für die ſpätere, die ſie uns aufbewahrt hat, eine bloße Reminiscenz. Der ungeheure Contraſt in dem ehelichen Leben dieſer beiden Zeiten, der alten ſtrengen Sitte und Treue und der ſpätern Frivolität, grauenhaften Verwilderung und Zügelloſigkeit iſt bekannt. Dort trotz der rechtlichen Trennbar- keit der Ehe doch faktiſch die äußerſte Seltenheit der Eheſchei- dungen, 316) hier trotz aller Geſetze Ehebruch und Eheſcheidung 314) Nicht bei der confarreatio allein. S. Roßbach a. a. O. Abſchn. IV. 315) L. 1 de R. N. (23. 2): consortium omnis vitae, divini et hu- mani juris communicatio. §. 1 I. de patr. pot. (1. 9) individuam vitae consuetudinem continens. L. 4 Cod. de crim. expil. her. (9. 32). Livius I. 9 läßt Romulus das matrimonium als societas fortunarum omnium civita- tisque bezeichnen, ebenſo Dionys. II. 25 κοινωνία ἱεϱῶν καὶ χϱημάτων. 316) So viel folgt mindeſtens aus der bekannten Sage, daß die Eheſchei- dung des Sp. Carvilius (U. C. 520) die erſte geweſen ſein ſoll. Gell. XVII. 21. Val. Max. II. 1, 4.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/226>, abgerufen am 24.11.2024.