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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
sollte uns nicht schon die altrömische Sittlichkeit überhaupt auf
den rechten Weg weisen können? Die Familie ist einmal die
Quelle der Sittlichkeit; ist sie vergiftet, so ist es auch letztere;
ist aber letztere rein und gesund, so muß es auch erstere gewesen
sein. Der Zusammenhang der Moralität mit der Familie war
im ältern Rom gerade ein besonders inniger, die meisten alt-
römischen Tugenden stehen augenscheinlich zum Familienleben
in innigster Beziehung. Die Einfachheit und Sparsamkeit, die
Keuschheit und Treue u. s. w., sie gruppiren sich um das Haus
und die Familie als um ihren eigentlich belebenden Mittelpunkt;
die Familie gewährte selbst dem römischen Egoismus ein sittli-
ches Motiv. Das Familienverhältniß muß durchaus sich einer
gesunden normalen Organisation erfreut haben, wenn es solche
Früchte getragen hat. Man wird mir antworten, daß sich dies
immerhin mit einer großen Lieblosigkeit, Härte und Rohheit gegen
die Familienangehörigen sehr wohl vertrage. Es gibt für diese
Frage einen sichern Maßstab, nämlich die Stellung des weib-
lichen Geschlechts. 304) Ob nun den Römern von allen Völkern
allein die Liebe zu den Frauen und Kindern gefehlt, ob statt
der Liebe hier Rohheit, Brutalität u. s. w. das Verhältniß
beherrscht habe, das, meine ich, muß sich, auch wenn uns ein
Blick in ein altrömisches Herz versagt ist, an jenem Punkt
vollständig erkennen lassen. Wie war nun die Stellung des
weiblichen Geschlechts in Rom? Eine ganz andere, als bei
irgend einem Volk der alten Welt, auch die Griechen nicht aus-
genommen, 305) ja ich bezweifle, ob die civilisirtesten Völker der

304) Ich hatte gehofft in der Schrift von Laboulaye Recherches sur
la condition
u. s. w. des femmes Aufschlüsse hierüber zu finden, allein der
Verf. scheint sich bei Abfassung jener Schrift (1841) zu der richtigen Be-
handlungsweise römischer Zustände, die er später in seiner trefflichen Schrift
über die Verantwortlichkeit der römischen Magistrate (S. §. 35) mit so vielem
Erfolg in Anwendung gebracht hat, noch nicht aufgeschwungen zu haben; er
steht hier noch ganz und gar auf dem Boden der abstract-juristischen Auffassung.
305) Die Römer waren sich dieser Eigenthümlichkeit gegenüber den Grie-
chen sehr wohl bewußt. So z. B. Cornel. Nepos Praef.: quem enim Ro-

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſollte uns nicht ſchon die altrömiſche Sittlichkeit überhaupt auf
den rechten Weg weiſen können? Die Familie iſt einmal die
Quelle der Sittlichkeit; iſt ſie vergiftet, ſo iſt es auch letztere;
iſt aber letztere rein und geſund, ſo muß es auch erſtere geweſen
ſein. Der Zuſammenhang der Moralität mit der Familie war
im ältern Rom gerade ein beſonders inniger, die meiſten alt-
römiſchen Tugenden ſtehen augenſcheinlich zum Familienleben
in innigſter Beziehung. Die Einfachheit und Sparſamkeit, die
Keuſchheit und Treue u. ſ. w., ſie gruppiren ſich um das Haus
und die Familie als um ihren eigentlich belebenden Mittelpunkt;
die Familie gewährte ſelbſt dem römiſchen Egoismus ein ſittli-
ches Motiv. Das Familienverhältniß muß durchaus ſich einer
geſunden normalen Organiſation erfreut haben, wenn es ſolche
Früchte getragen hat. Man wird mir antworten, daß ſich dies
immerhin mit einer großen Liebloſigkeit, Härte und Rohheit gegen
die Familienangehörigen ſehr wohl vertrage. Es gibt für dieſe
Frage einen ſichern Maßſtab, nämlich die Stellung des weib-
lichen Geſchlechts. 304) Ob nun den Römern von allen Völkern
allein die Liebe zu den Frauen und Kindern gefehlt, ob ſtatt
der Liebe hier Rohheit, Brutalität u. ſ. w. das Verhältniß
beherrſcht habe, das, meine ich, muß ſich, auch wenn uns ein
Blick in ein altrömiſches Herz verſagt iſt, an jenem Punkt
vollſtändig erkennen laſſen. Wie war nun die Stellung des
weiblichen Geſchlechts in Rom? Eine ganz andere, als bei
irgend einem Volk der alten Welt, auch die Griechen nicht aus-
genommen, 305) ja ich bezweifle, ob die civiliſirteſten Völker der

304) Ich hatte gehofft in der Schrift von Laboulaye Recherches sur
la condition
u. ſ. w. des femmes Aufſchlüſſe hierüber zu finden, allein der
Verf. ſcheint ſich bei Abfaſſung jener Schrift (1841) zu der richtigen Be-
handlungsweiſe römiſcher Zuſtände, die er ſpäter in ſeiner trefflichen Schrift
über die Verantwortlichkeit der römiſchen Magiſtrate (S. §. 35) mit ſo vielem
Erfolg in Anwendung gebracht hat, noch nicht aufgeſchwungen zu haben; er
ſteht hier noch ganz und gar auf dem Boden der abſtract-juriſtiſchen Auffaſſung.
305) Die Römer waren ſich dieſer Eigenthümlichkeit gegenüber den Grie-
chen ſehr wohl bewußt. So z. B. Cornel. Nepos Praef.: quem enim Ro-
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[208/0222] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. ſollte uns nicht ſchon die altrömiſche Sittlichkeit überhaupt auf den rechten Weg weiſen können? Die Familie iſt einmal die Quelle der Sittlichkeit; iſt ſie vergiftet, ſo iſt es auch letztere; iſt aber letztere rein und geſund, ſo muß es auch erſtere geweſen ſein. Der Zuſammenhang der Moralität mit der Familie war im ältern Rom gerade ein beſonders inniger, die meiſten alt- römiſchen Tugenden ſtehen augenſcheinlich zum Familienleben in innigſter Beziehung. Die Einfachheit und Sparſamkeit, die Keuſchheit und Treue u. ſ. w., ſie gruppiren ſich um das Haus und die Familie als um ihren eigentlich belebenden Mittelpunkt; die Familie gewährte ſelbſt dem römiſchen Egoismus ein ſittli- ches Motiv. Das Familienverhältniß muß durchaus ſich einer geſunden normalen Organiſation erfreut haben, wenn es ſolche Früchte getragen hat. Man wird mir antworten, daß ſich dies immerhin mit einer großen Liebloſigkeit, Härte und Rohheit gegen die Familienangehörigen ſehr wohl vertrage. Es gibt für dieſe Frage einen ſichern Maßſtab, nämlich die Stellung des weib- lichen Geſchlechts. 304) Ob nun den Römern von allen Völkern allein die Liebe zu den Frauen und Kindern gefehlt, ob ſtatt der Liebe hier Rohheit, Brutalität u. ſ. w. das Verhältniß beherrſcht habe, das, meine ich, muß ſich, auch wenn uns ein Blick in ein altrömiſches Herz verſagt iſt, an jenem Punkt vollſtändig erkennen laſſen. Wie war nun die Stellung des weiblichen Geſchlechts in Rom? Eine ganz andere, als bei irgend einem Volk der alten Welt, auch die Griechen nicht aus- genommen, 305) ja ich bezweifle, ob die civiliſirteſten Völker der 304) Ich hatte gehofft in der Schrift von Laboulaye Recherches sur la condition u. ſ. w. des femmes Aufſchlüſſe hierüber zu finden, allein der Verf. ſcheint ſich bei Abfaſſung jener Schrift (1841) zu der richtigen Be- handlungsweiſe römiſcher Zuſtände, die er ſpäter in ſeiner trefflichen Schrift über die Verantwortlichkeit der römiſchen Magiſtrate (S. §. 35) mit ſo vielem Erfolg in Anwendung gebracht hat, noch nicht aufgeſchwungen zu haben; er ſteht hier noch ganz und gar auf dem Boden der abſtract-juriſtiſchen Auffaſſung. 305) Die Römer waren ſich dieſer Eigenthümlichkeit gegenüber den Grie- chen ſehr wohl bewußt. So z. B. Cornel. Nepos Praef.: quem enim Ro-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/222>, abgerufen am 24.11.2024.