Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. man sich seine Vorstellung vom römischen Volkscharakter ledig-lich nach dem öffentlichen Auftreten der Römer, ihrer Härte und Schonungslosigkeit gegen Feinde und Unterthanen, ihrer Rück- sichtslosigkeit im bürgerlichen Verkehr u. s. w. zuschneidet, dann mag man sich der Untersuchung überhoben glauben, ob der Schluß vom Familien-Recht auf das Familien-Leben zutreffend ist. Es ist aber bekanntlich eine häufige Erscheinung gerade bei kräf- tigen Naturen, daß eine Art Theilung ihres Charakters eintritt: der öffentliche starr, unbeugsam, schroff, der Privatcharakter milde, weich. Das Gemüth zieht sich in demselben Maße in die engern und engsten Kreise der Familienliebe zurück, je weni- ger es da draußen Gelegenheit findet sich zu bethätigen. Gerade diese Comprimirung des Gemüths gibt demselben für den klei- nen Raum, auf den es zusammengepreßt ist, nicht selten eine Innigkeit, eine Intensität und eine überraschende Zartheit des Ausdrucks, nach dem man bei jenen Naturen, bei denen das Gemüth allgegenwärtig ist, vergebens sucht. Daß ich von die- sem psychologischen Erfahrungssatz eine Anwendung auf die Römer machen will, mag bei manchem meiner Leser ein gelin- des Staunen hervorrufen; ich muß es der folgenden Darstel- lung vorbehalten, dasselbe zu mäßigen. Der Römer nach außen hin d. h. im Geschäftsleben sowohl Das feste Zusammenhalten der Familienmitglieder, die 303) Das Zusammenleben der 16 Aelier in einem Hause, von dem Val.
Max. IV. 4, 8 berichtet, gibt ein Beispiel seltenster Art dafür. Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. man ſich ſeine Vorſtellung vom römiſchen Volkscharakter ledig-lich nach dem öffentlichen Auftreten der Römer, ihrer Härte und Schonungsloſigkeit gegen Feinde und Unterthanen, ihrer Rück- ſichtsloſigkeit im bürgerlichen Verkehr u. ſ. w. zuſchneidet, dann mag man ſich der Unterſuchung überhoben glauben, ob der Schluß vom Familien-Recht auf das Familien-Leben zutreffend iſt. Es iſt aber bekanntlich eine häufige Erſcheinung gerade bei kräf- tigen Naturen, daß eine Art Theilung ihres Charakters eintritt: der öffentliche ſtarr, unbeugſam, ſchroff, der Privatcharakter milde, weich. Das Gemüth zieht ſich in demſelben Maße in die engern und engſten Kreiſe der Familienliebe zurück, je weni- ger es da draußen Gelegenheit findet ſich zu bethätigen. Gerade dieſe Comprimirung des Gemüths gibt demſelben für den klei- nen Raum, auf den es zuſammengepreßt iſt, nicht ſelten eine Innigkeit, eine Intenſität und eine überraſchende Zartheit des Ausdrucks, nach dem man bei jenen Naturen, bei denen das Gemüth allgegenwärtig iſt, vergebens ſucht. Daß ich von die- ſem pſychologiſchen Erfahrungsſatz eine Anwendung auf die Römer machen will, mag bei manchem meiner Leſer ein gelin- des Staunen hervorrufen; ich muß es der folgenden Darſtel- lung vorbehalten, daſſelbe zu mäßigen. Der Römer nach außen hin d. h. im Geſchäftsleben ſowohl Das feſte Zuſammenhalten der Familienmitglieder, die 303) Das Zuſammenleben der 16 Aelier in einem Hauſe, von dem Val.
Max. IV. 4, 8 berichtet, gibt ein Beiſpiel ſeltenſter Art dafür. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <div n="8"> <p><pb facs="#f0220" n="206"/><fw place="top" type="header">Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe. <hi rendition="#aq">III.</hi> Der Freiheitstrieb.</fw><lb/> man ſich ſeine Vorſtellung vom römiſchen Volkscharakter ledig-<lb/> lich nach dem öffentlichen Auftreten der Römer, ihrer Härte und<lb/> Schonungsloſigkeit gegen Feinde und Unterthanen, ihrer Rück-<lb/> ſichtsloſigkeit im bürgerlichen Verkehr u. ſ. w. zuſchneidet, dann<lb/> mag man ſich der Unterſuchung überhoben glauben, ob der Schluß<lb/> vom Familien-<hi rendition="#g">Recht</hi> auf das Familien-<hi rendition="#g">Leben</hi> zutreffend iſt.<lb/> Es iſt aber bekanntlich eine häufige Erſcheinung gerade bei kräf-<lb/> tigen Naturen, daß eine Art Theilung ihres Charakters eintritt:<lb/> der öffentliche ſtarr, unbeugſam, ſchroff, der Privatcharakter<lb/> milde, weich. Das Gemüth zieht ſich in demſelben Maße in<lb/> die engern und engſten Kreiſe der Familienliebe zurück, je weni-<lb/> ger es da draußen Gelegenheit findet ſich zu bethätigen. Gerade<lb/> dieſe Comprimirung des Gemüths gibt demſelben für den klei-<lb/> nen Raum, auf den es zuſammengepreßt iſt, nicht ſelten eine<lb/> Innigkeit, eine Intenſität und eine überraſchende Zartheit des<lb/> Ausdrucks, nach dem man bei jenen Naturen, bei denen das<lb/> Gemüth allgegenwärtig iſt, vergebens ſucht. Daß ich von die-<lb/> ſem pſychologiſchen Erfahrungsſatz eine Anwendung auf die<lb/> Römer machen will, mag bei manchem meiner Leſer ein gelin-<lb/> des Staunen hervorrufen; ich muß es der folgenden Darſtel-<lb/> lung vorbehalten, daſſelbe zu mäßigen.</p><lb/> <p>Der Römer nach außen hin d. h. im Geſchäftsleben ſowohl<lb/> wie in der Politik und der Römer im Innern der Familie ſind<lb/> zwei ganz verſchiedene Leute. Dort kennt er keine Schonung;<lb/> rückſichtslos verfolgt der römiſche Egoismus den einmal vorge-<lb/> zeichneten Weg. Aber im Innern der Familie? Hier lernen<lb/> wir ihn von einer Seite kennen, die uns mit den Römern wie-<lb/> der ausſöhnen muß und das moraliſche Gleichgewicht mit an-<lb/> dern Völkern z. B. den Griechen reichlich wieder herſtellt.</p><lb/> <p>Das feſte Zuſammenhalten der Familienmitglieder, die<lb/> Pflege des Familienverbandes iſt von altersher ein Grundzug<lb/> des römiſchen Weſens geweſen, <note place="foot" n="303)">Das Zuſammenleben der 16 Aelier in einem Hauſe, von dem <hi rendition="#aq">Val.<lb/> Max. IV.</hi> 4, 8 berichtet, gibt ein Beiſpiel ſeltenſter Art dafür.</note> und in der in dem vorigen<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [206/0220]
Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
man ſich ſeine Vorſtellung vom römiſchen Volkscharakter ledig-
lich nach dem öffentlichen Auftreten der Römer, ihrer Härte und
Schonungsloſigkeit gegen Feinde und Unterthanen, ihrer Rück-
ſichtsloſigkeit im bürgerlichen Verkehr u. ſ. w. zuſchneidet, dann
mag man ſich der Unterſuchung überhoben glauben, ob der Schluß
vom Familien-Recht auf das Familien-Leben zutreffend iſt.
Es iſt aber bekanntlich eine häufige Erſcheinung gerade bei kräf-
tigen Naturen, daß eine Art Theilung ihres Charakters eintritt:
der öffentliche ſtarr, unbeugſam, ſchroff, der Privatcharakter
milde, weich. Das Gemüth zieht ſich in demſelben Maße in
die engern und engſten Kreiſe der Familienliebe zurück, je weni-
ger es da draußen Gelegenheit findet ſich zu bethätigen. Gerade
dieſe Comprimirung des Gemüths gibt demſelben für den klei-
nen Raum, auf den es zuſammengepreßt iſt, nicht ſelten eine
Innigkeit, eine Intenſität und eine überraſchende Zartheit des
Ausdrucks, nach dem man bei jenen Naturen, bei denen das
Gemüth allgegenwärtig iſt, vergebens ſucht. Daß ich von die-
ſem pſychologiſchen Erfahrungsſatz eine Anwendung auf die
Römer machen will, mag bei manchem meiner Leſer ein gelin-
des Staunen hervorrufen; ich muß es der folgenden Darſtel-
lung vorbehalten, daſſelbe zu mäßigen.
Der Römer nach außen hin d. h. im Geſchäftsleben ſowohl
wie in der Politik und der Römer im Innern der Familie ſind
zwei ganz verſchiedene Leute. Dort kennt er keine Schonung;
rückſichtslos verfolgt der römiſche Egoismus den einmal vorge-
zeichneten Weg. Aber im Innern der Familie? Hier lernen
wir ihn von einer Seite kennen, die uns mit den Römern wie-
der ausſöhnen muß und das moraliſche Gleichgewicht mit an-
dern Völkern z. B. den Griechen reichlich wieder herſtellt.
Das feſte Zuſammenhalten der Familienmitglieder, die
Pflege des Familienverbandes iſt von altersher ein Grundzug
des römiſchen Weſens geweſen, 303) und in der in dem vorigen
303) Das Zuſammenleben der 16 Aelier in einem Hauſe, von dem Val.
Max. IV. 4, 8 berichtet, gibt ein Beiſpiel ſeltenſter Art dafür.
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