Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. chen Gestaltung des ältern Strafwesens erinnern. Es ist oben(S. 43) ausgeführt, daß das Verbrechen mehr die Veranlas- sung, als den Gegenstand der Untersuchung bildete, die ganze sittliche Persönlichkeit und Vergangenheit des Angeschuldigten re- gelmäßig den Ausschlag gab. Diese criminelle Geltendma- chung des sittlichen Moments beschränkte sich aber keineswegs auf die Fälle, wo ein eigentliches Verbrechen begangen war (wo dies Moment also nur einen accessorischen Einfluß ausübte), son- dern die eigenthümliche Organisation dieser Strafrechtspflege machte es möglich, daß Jemand wegen Handlungen in Anklage- zustand versetzt und verurtheilt ward, die eine öffentliche Ent- rüstung erregt hatten, ohne aber unter die Kategorie eines eigentlichen Verbrechens zu fallen. Dies Schicksal konnte Je- manden treffen, der vom privatrechtlichen Gesichtspunkt aus betrachtet durchaus in seinem Recht war, z. B. von seiner pa- tria potestas einen in moralischer Hinsicht unverantwortlichen Gebrauch gemacht hatte. Eklatante Fälle dieser Art konnten das Volk in der Weise erbittern, daß es nicht einmal bis zum Tage des Gerichts wartete, um seinen Gefühlen Luft zu machen. 164) Auf jeden Fall aber war es höchst gewagt, in sol- cher Weise das Volk zu reizen, sowohl für den, der je noch das Geringste von demselben erwartete, als auch für den, der die Gunst desselben gar nicht ambirte. Was half es ihm, auf sein abstractes "Recht" zu pochen, wenn das Volk, der lebendige Träger der Rechtsidee, der Ansicht war, daß er sich seines Rechts in einer Weise bedient habe, die dem Sinne desselben widerstrebe? Sein Unrecht und seine Strafwürdigkeit lag darin, daß er sich über die Sitte und das sittliche Urtheil hinweggesetzt, daß er, sich isolirend auf den beschränkten Standpunkt seines subjektiven Rechts, die schuldige Rücksicht gegen die Gemein- 164) So z. B. Seneca de clementia I. c. 14. Erixonem equitem Ro-
manum memoria nostra, quia filium suum flagellis occiderat, populus in foro graphiis confodit. Vix illum Augusti Caesaris auctoritas infestis tam patrum, quam filiorum manibus eripuit. Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. chen Geſtaltung des ältern Strafweſens erinnern. Es iſt oben(S. 43) ausgeführt, daß das Verbrechen mehr die Veranlaſ- ſung, als den Gegenſtand der Unterſuchung bildete, die ganze ſittliche Perſönlichkeit und Vergangenheit des Angeſchuldigten re- gelmäßig den Ausſchlag gab. Dieſe criminelle Geltendma- chung des ſittlichen Moments beſchränkte ſich aber keineswegs auf die Fälle, wo ein eigentliches Verbrechen begangen war (wo dies Moment alſo nur einen acceſſoriſchen Einfluß ausübte), ſon- dern die eigenthümliche Organiſation dieſer Strafrechtspflege machte es möglich, daß Jemand wegen Handlungen in Anklage- zuſtand verſetzt und verurtheilt ward, die eine öffentliche Ent- rüſtung erregt hatten, ohne aber unter die Kategorie eines eigentlichen Verbrechens zu fallen. Dies Schickſal konnte Je- manden treffen, der vom privatrechtlichen Geſichtspunkt aus betrachtet durchaus in ſeinem Recht war, z. B. von ſeiner pa- tria potestas einen in moraliſcher Hinſicht unverantwortlichen Gebrauch gemacht hatte. Eklatante Fälle dieſer Art konnten das Volk in der Weiſe erbittern, daß es nicht einmal bis zum Tage des Gerichts wartete, um ſeinen Gefühlen Luft zu machen. 164) Auf jeden Fall aber war es höchſt gewagt, in ſol- cher Weiſe das Volk zu reizen, ſowohl für den, der je noch das Geringſte von demſelben erwartete, als auch für den, der die Gunſt deſſelben gar nicht ambirte. Was half es ihm, auf ſein abſtractes „Recht“ zu pochen, wenn das Volk, der lebendige Träger der Rechtsidee, der Anſicht war, daß er ſich ſeines Rechts in einer Weiſe bedient habe, die dem Sinne deſſelben widerſtrebe? Sein Unrecht und ſeine Strafwürdigkeit lag darin, daß er ſich über die Sitte und das ſittliche Urtheil hinweggeſetzt, daß er, ſich iſolirend auf den beſchränkten Standpunkt ſeines ſubjektiven Rechts, die ſchuldige Rückſicht gegen die Gemein- 164) So z. B. Seneca de clementia I. c. 14. Erixonem equitem Ro-
manum memoria nostra, quia filium suum flagellis occiderat, populus in foro graphiis confodit. Vix illum Augusti Caesaris auctoritas infestis tam patrum, quam filiorum manibus eripuit. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p><pb facs="#f0162" n="148"/><fw place="top" type="header">Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe. <hi rendition="#aq">III.</hi> Der Freiheitstrieb.</fw><lb/> chen Geſtaltung des ältern Strafweſens erinnern. Es iſt oben<lb/> (S. 43) ausgeführt, daß das Verbrechen mehr die <hi rendition="#g">Veranlaſ-<lb/> ſung</hi>, als den <hi rendition="#g">Gegenſtand</hi> der Unterſuchung bildete, die ganze<lb/> ſittliche Perſönlichkeit und Vergangenheit des Angeſchuldigten re-<lb/> gelmäßig den Ausſchlag gab. Dieſe <hi rendition="#g">criminelle</hi> Geltendma-<lb/> chung des ſittlichen Moments beſchränkte ſich aber keineswegs auf<lb/> die Fälle, wo ein eigentliches Verbrechen begangen war (wo dies<lb/> Moment alſo nur einen acceſſoriſchen Einfluß ausübte), ſon-<lb/> dern die eigenthümliche Organiſation dieſer Strafrechtspflege<lb/> machte es möglich, daß Jemand wegen Handlungen in Anklage-<lb/> zuſtand verſetzt und verurtheilt ward, die eine öffentliche Ent-<lb/> rüſtung erregt hatten, ohne aber unter die Kategorie eines<lb/> eigentlichen Verbrechens zu fallen. Dies Schickſal konnte Je-<lb/> manden treffen, der vom privatrechtlichen Geſichtspunkt aus<lb/> betrachtet durchaus in ſeinem Recht war, z. B. von ſeiner <hi rendition="#aq">pa-<lb/> tria potestas</hi> einen in moraliſcher Hinſicht unverantwortlichen<lb/> Gebrauch gemacht hatte. Eklatante Fälle dieſer Art konnten<lb/> das Volk in der Weiſe erbittern, daß es nicht einmal bis<lb/> zum Tage des Gerichts wartete, um ſeinen Gefühlen Luft zu<lb/> machen. <note place="foot" n="164)">So z. B. <hi rendition="#aq">Seneca de clementia I. c. 14. Erixonem equitem Ro-<lb/> manum memoria nostra, quia filium suum flagellis occiderat, populus in<lb/> foro graphiis confodit. Vix illum Augusti Caesaris auctoritas infestis<lb/> tam patrum, quam filiorum manibus eripuit.</hi></note> Auf jeden Fall aber war es höchſt gewagt, in ſol-<lb/> cher Weiſe das Volk zu reizen, ſowohl für den, der je noch das<lb/> Geringſte von demſelben erwartete, als auch für den, der die<lb/> Gunſt deſſelben gar nicht ambirte. Was half es ihm, auf ſein<lb/> abſtractes „<hi rendition="#g">Recht</hi>“ zu pochen, wenn das Volk, der lebendige<lb/> Träger der Rechtsidee, der Anſicht war, daß er ſich ſeines<lb/> Rechts in einer Weiſe bedient habe, die dem Sinne deſſelben<lb/> widerſtrebe? Sein Unrecht und ſeine Strafwürdigkeit lag darin,<lb/> daß er ſich über die Sitte und das ſittliche Urtheil hinweggeſetzt,<lb/> daß er, ſich iſolirend auf den beſchränkten Standpunkt ſeines<lb/> ſubjektiven Rechts, die ſchuldige Rückſicht gegen die Gemein-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [148/0162]
Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
chen Geſtaltung des ältern Strafweſens erinnern. Es iſt oben
(S. 43) ausgeführt, daß das Verbrechen mehr die Veranlaſ-
ſung, als den Gegenſtand der Unterſuchung bildete, die ganze
ſittliche Perſönlichkeit und Vergangenheit des Angeſchuldigten re-
gelmäßig den Ausſchlag gab. Dieſe criminelle Geltendma-
chung des ſittlichen Moments beſchränkte ſich aber keineswegs auf
die Fälle, wo ein eigentliches Verbrechen begangen war (wo dies
Moment alſo nur einen acceſſoriſchen Einfluß ausübte), ſon-
dern die eigenthümliche Organiſation dieſer Strafrechtspflege
machte es möglich, daß Jemand wegen Handlungen in Anklage-
zuſtand verſetzt und verurtheilt ward, die eine öffentliche Ent-
rüſtung erregt hatten, ohne aber unter die Kategorie eines
eigentlichen Verbrechens zu fallen. Dies Schickſal konnte Je-
manden treffen, der vom privatrechtlichen Geſichtspunkt aus
betrachtet durchaus in ſeinem Recht war, z. B. von ſeiner pa-
tria potestas einen in moraliſcher Hinſicht unverantwortlichen
Gebrauch gemacht hatte. Eklatante Fälle dieſer Art konnten
das Volk in der Weiſe erbittern, daß es nicht einmal bis
zum Tage des Gerichts wartete, um ſeinen Gefühlen Luft zu
machen. 164) Auf jeden Fall aber war es höchſt gewagt, in ſol-
cher Weiſe das Volk zu reizen, ſowohl für den, der je noch das
Geringſte von demſelben erwartete, als auch für den, der die
Gunſt deſſelben gar nicht ambirte. Was half es ihm, auf ſein
abſtractes „Recht“ zu pochen, wenn das Volk, der lebendige
Träger der Rechtsidee, der Anſicht war, daß er ſich ſeines
Rechts in einer Weiſe bedient habe, die dem Sinne deſſelben
widerſtrebe? Sein Unrecht und ſeine Strafwürdigkeit lag darin,
daß er ſich über die Sitte und das ſittliche Urtheil hinweggeſetzt,
daß er, ſich iſolirend auf den beſchränkten Standpunkt ſeines
ſubjektiven Rechts, die ſchuldige Rückſicht gegen die Gemein-
164) So z. B. Seneca de clementia I. c. 14. Erixonem equitem Ro-
manum memoria nostra, quia filium suum flagellis occiderat, populus in
foro graphiis confodit. Vix illum Augusti Caesaris auctoritas infestis
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