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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
sowohl wie der Regierungen so eingewurzelt, 145) daß noch eine
lange, lange Zeit über dem Verlauf dieses Prozesses verfließen
dürfte. Es handelt sich hier um eine Veränderung nicht so-
wohl in der Ansicht, als dem Charakter und Rechtsgefühl des
Volks, und derartige Umwandlungen vollziehen sich bekanntlich
nur sehr langsam.

Versuchen wir es jetzt, jene Anschauungsweise des täuschen-
den Scheines, mit dem sie sich umgibt, zu entkleiden und sie in
ihrer wahren Gestalt kennen zu lernen.

Zunächst müssen wir den obigen Vergleich der moralischen
und physischen Weltordnung als eine Entwürdigung der ersteren
entschieden zurückweisen. Denn das Wesen der ersteren ist die
Freiheit, das der letzteren die Nothwendigkeit, und es kann nicht
Aufgabe der ersteren sein, gerade diesen ihren specifischen Vorzug
aufzugeben, um damit die Regelmäßigkeit, Berechenbarkeit
u. s. w. der letzteren zu erkaufen. Der Staat als der Organis-
mus der Freiheit kann allerdings, um eben dies zu sein, das
Moment der Nothwendigkeit nicht entbehren, er hat Eine Seite,
nach der er wirklich der Natur mit ihrer Nothwendigkeit ver-
wandt ist, d. h. zu Gesetzen und äußerem mechanischen Zwang
seine Zuflucht nehmen muß. Aber je mehr er ohne die dringend-
sten Gründe diese Seite entwickelt, also das Element der Frei-
heit in sich verkürzt, um desto mehr steigt er von der Höhe seiner
Bestimmung, die ihn über die natürliche Welt erhebt, zu dem
niedern Standpunkt der letzteren hinunter. Die Nothwendigkeit
soll ihm nur den festen, kräftigen Körperbau sichern und den
Boden ebnen, auf dem dann die Freiheit producirt. Letztere ist
die eigentliche Naturkraft des Staats, die freie Bewegung und
Produktion für ihn die natürliche, die gezwungene die un-
natürliche, künstliche.

145) Die Charakteristik des ältern römischen Rechts wird mir zu manchen
Seitenblicken auf die heutige Zeit Gelegenheit geben, und die Behauptung
des Textes wird sich dort, wie ich hoffe, rechtfertigen.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſowohl wie der Regierungen ſo eingewurzelt, 145) daß noch eine
lange, lange Zeit über dem Verlauf dieſes Prozeſſes verfließen
dürfte. Es handelt ſich hier um eine Veränderung nicht ſo-
wohl in der Anſicht, als dem Charakter und Rechtsgefühl des
Volks, und derartige Umwandlungen vollziehen ſich bekanntlich
nur ſehr langſam.

Verſuchen wir es jetzt, jene Anſchauungsweiſe des täuſchen-
den Scheines, mit dem ſie ſich umgibt, zu entkleiden und ſie in
ihrer wahren Geſtalt kennen zu lernen.

Zunächſt müſſen wir den obigen Vergleich der moraliſchen
und phyſiſchen Weltordnung als eine Entwürdigung der erſteren
entſchieden zurückweiſen. Denn das Weſen der erſteren iſt die
Freiheit, das der letzteren die Nothwendigkeit, und es kann nicht
Aufgabe der erſteren ſein, gerade dieſen ihren ſpecifiſchen Vorzug
aufzugeben, um damit die Regelmäßigkeit, Berechenbarkeit
u. ſ. w. der letzteren zu erkaufen. Der Staat als der Organis-
mus der Freiheit kann allerdings, um eben dies zu ſein, das
Moment der Nothwendigkeit nicht entbehren, er hat Eine Seite,
nach der er wirklich der Natur mit ihrer Nothwendigkeit ver-
wandt iſt, d. h. zu Geſetzen und äußerem mechaniſchen Zwang
ſeine Zuflucht nehmen muß. Aber je mehr er ohne die dringend-
ſten Gründe dieſe Seite entwickelt, alſo das Element der Frei-
heit in ſich verkürzt, um deſto mehr ſteigt er von der Höhe ſeiner
Beſtimmung, die ihn über die natürliche Welt erhebt, zu dem
niedern Standpunkt der letzteren hinunter. Die Nothwendigkeit
ſoll ihm nur den feſten, kräftigen Körperbau ſichern und den
Boden ebnen, auf dem dann die Freiheit producirt. Letztere iſt
die eigentliche Naturkraft des Staats, die freie Bewegung und
Produktion für ihn die natürliche, die gezwungene die un-
natürliche, künſtliche.

145) Die Charakteriſtik des ältern römiſchen Rechts wird mir zu manchen
Seitenblicken auf die heutige Zeit Gelegenheit geben, und die Behauptung
des Textes wird ſich dort, wie ich hoffe, rechtfertigen.
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[128/0142] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. ſowohl wie der Regierungen ſo eingewurzelt, 145) daß noch eine lange, lange Zeit über dem Verlauf dieſes Prozeſſes verfließen dürfte. Es handelt ſich hier um eine Veränderung nicht ſo- wohl in der Anſicht, als dem Charakter und Rechtsgefühl des Volks, und derartige Umwandlungen vollziehen ſich bekanntlich nur ſehr langſam. Verſuchen wir es jetzt, jene Anſchauungsweiſe des täuſchen- den Scheines, mit dem ſie ſich umgibt, zu entkleiden und ſie in ihrer wahren Geſtalt kennen zu lernen. Zunächſt müſſen wir den obigen Vergleich der moraliſchen und phyſiſchen Weltordnung als eine Entwürdigung der erſteren entſchieden zurückweiſen. Denn das Weſen der erſteren iſt die Freiheit, das der letzteren die Nothwendigkeit, und es kann nicht Aufgabe der erſteren ſein, gerade dieſen ihren ſpecifiſchen Vorzug aufzugeben, um damit die Regelmäßigkeit, Berechenbarkeit u. ſ. w. der letzteren zu erkaufen. Der Staat als der Organis- mus der Freiheit kann allerdings, um eben dies zu ſein, das Moment der Nothwendigkeit nicht entbehren, er hat Eine Seite, nach der er wirklich der Natur mit ihrer Nothwendigkeit ver- wandt iſt, d. h. zu Geſetzen und äußerem mechaniſchen Zwang ſeine Zuflucht nehmen muß. Aber je mehr er ohne die dringend- ſten Gründe dieſe Seite entwickelt, alſo das Element der Frei- heit in ſich verkürzt, um deſto mehr ſteigt er von der Höhe ſeiner Beſtimmung, die ihn über die natürliche Welt erhebt, zu dem niedern Standpunkt der letzteren hinunter. Die Nothwendigkeit ſoll ihm nur den feſten, kräftigen Körperbau ſichern und den Boden ebnen, auf dem dann die Freiheit producirt. Letztere iſt die eigentliche Naturkraft des Staats, die freie Bewegung und Produktion für ihn die natürliche, die gezwungene die un- natürliche, künſtliche. 145) Die Charakteriſtik des ältern römiſchen Rechts wird mir zu manchen Seitenblicken auf die heutige Zeit Gelegenheit geben, und die Behauptung des Textes wird ſich dort, wie ich hoffe, rechtfertigen.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/142>, abgerufen am 24.11.2024.