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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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II. Der Gleichheitstrieb. -- Bleibender Werth desselben. §. 29.
Ausführung beschließen, nämlich die bleibende Bedeutung,
die der Gleichheitstrieb für die technische Ausbildung des römi-
schen Rechts gewonnen hat.

Der Gegensatz der bisher geschilderten altrömischen und der
partikularisirenden und individualisirenden Behandlungsweise
des deutschen Rechts läßt sich als Gegensatz der centripetalen
und centrifugalen Richtung bezeichnen. Dort wirft sich die bil-
dende Kraft vorzugsweise auf das Centrum, hier auf die Pe-
ripherie. Nun kann man allerdings eben so wohl von der Pe-
ripherie zum Centrum, wie von dem Centrum zur Peripherie
gelangen, aber leichter und sicherer ist dieser letzte Weg. Wirft
sich die produktive Kraft des Rechts von vornherein auf die
Ausbildung des Partikulären und Besonderen, so ist es weit
schwieriger, von diesem zum Generellen und Gemeinsamen hin-
aufzusteigen, als umgekehrt, wenn zunächst das allen gemein-
same Centrum kräftig entwickelt ist, von diesem zu den Beson-
derheiten hinunterzusteigen. Denn um dort dies Ziel zu errei-
chen, müssen erst sämmtliche einzelne Partikularitäten, die viel-
leicht regellos auseinandergegangen sind, in einen Kreis gerückt,
mühsam muß für sie erst ein Mittelpunkt gesucht und festgestellt
werden. Die Wissenschaft des deutschen Rechts gewährt uns
hierfür einen schlagenden Beleg, und die Nachtheile der überwie-
gend centrifugalen Richtung des deutschen Geistes sind auf ihrem
Gebiete nicht minder sichtbar und fühlbar, als auf dem unserer
politischen Geschichte. 140) Wie es im Wesen des römischen Gei-

140) Man könnte das Verhältniß der einzelnen Institute des deutschen
Rechts mit dem der deutschen Bundesstaaten vergleichen. Dort wie hier
dasselbe aus denselben Gründen hervorgegangene Verhältniß eines bloßen
Bundes (hinsichtlich der ersteren könnte man mitunter in Versuchung kom-
men zu sagen: eines Bandes im Sinn von Einband), und der Weg zur wah-
ren Einheit, die Ausbildung des centralen Moments ist bei beiden gleich weit
und schwierig. Der wissenschaftlichen Erforschung des deutschen Rechts steht
gewiß noch eine große Ausbeute an "centralen" Gesichtspunkten bevor, an
latenten höhern Rechtsprinzipien, die in den einzelnen Instituten sich verwirk-

II. Der Gleichheitstrieb. — Bleibender Werth deſſelben. §. 29.
Ausführung beſchließen, nämlich die bleibende Bedeutung,
die der Gleichheitstrieb für die techniſche Ausbildung des römi-
ſchen Rechts gewonnen hat.

Der Gegenſatz der bisher geſchilderten altrömiſchen und der
partikulariſirenden und individualiſirenden Behandlungsweiſe
des deutſchen Rechts läßt ſich als Gegenſatz der centripetalen
und centrifugalen Richtung bezeichnen. Dort wirft ſich die bil-
dende Kraft vorzugsweiſe auf das Centrum, hier auf die Pe-
ripherie. Nun kann man allerdings eben ſo wohl von der Pe-
ripherie zum Centrum, wie von dem Centrum zur Peripherie
gelangen, aber leichter und ſicherer iſt dieſer letzte Weg. Wirft
ſich die produktive Kraft des Rechts von vornherein auf die
Ausbildung des Partikulären und Beſonderen, ſo iſt es weit
ſchwieriger, von dieſem zum Generellen und Gemeinſamen hin-
aufzuſteigen, als umgekehrt, wenn zunächſt das allen gemein-
ſame Centrum kräftig entwickelt iſt, von dieſem zu den Beſon-
derheiten hinunterzuſteigen. Denn um dort dies Ziel zu errei-
chen, müſſen erſt ſämmtliche einzelne Partikularitäten, die viel-
leicht regellos auseinandergegangen ſind, in einen Kreis gerückt,
mühſam muß für ſie erſt ein Mittelpunkt geſucht und feſtgeſtellt
werden. Die Wiſſenſchaft des deutſchen Rechts gewährt uns
hierfür einen ſchlagenden Beleg, und die Nachtheile der überwie-
gend centrifugalen Richtung des deutſchen Geiſtes ſind auf ihrem
Gebiete nicht minder ſichtbar und fühlbar, als auf dem unſerer
politiſchen Geſchichte. 140) Wie es im Weſen des römiſchen Gei-

140) Man könnte das Verhältniß der einzelnen Inſtitute des deutſchen
Rechts mit dem der deutſchen Bundesſtaaten vergleichen. Dort wie hier
daſſelbe aus denſelben Gründen hervorgegangene Verhältniß eines bloßen
Bundes (hinſichtlich der erſteren könnte man mitunter in Verſuchung kom-
men zu ſagen: eines Bandes im Sinn von Einband), und der Weg zur wah-
ren Einheit, die Ausbildung des centralen Moments iſt bei beiden gleich weit
und ſchwierig. Der wiſſenſchaftlichen Erforſchung des deutſchen Rechts ſteht
gewiß noch eine große Ausbeute an „centralen“ Geſichtspunkten bevor, an
latenten höhern Rechtsprinzipien, die in den einzelnen Inſtituten ſich verwirk-
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[121/0135] II. Der Gleichheitstrieb. — Bleibender Werth deſſelben. §. 29. Ausführung beſchließen, nämlich die bleibende Bedeutung, die der Gleichheitstrieb für die techniſche Ausbildung des römi- ſchen Rechts gewonnen hat. Der Gegenſatz der bisher geſchilderten altrömiſchen und der partikulariſirenden und individualiſirenden Behandlungsweiſe des deutſchen Rechts läßt ſich als Gegenſatz der centripetalen und centrifugalen Richtung bezeichnen. Dort wirft ſich die bil- dende Kraft vorzugsweiſe auf das Centrum, hier auf die Pe- ripherie. Nun kann man allerdings eben ſo wohl von der Pe- ripherie zum Centrum, wie von dem Centrum zur Peripherie gelangen, aber leichter und ſicherer iſt dieſer letzte Weg. Wirft ſich die produktive Kraft des Rechts von vornherein auf die Ausbildung des Partikulären und Beſonderen, ſo iſt es weit ſchwieriger, von dieſem zum Generellen und Gemeinſamen hin- aufzuſteigen, als umgekehrt, wenn zunächſt das allen gemein- ſame Centrum kräftig entwickelt iſt, von dieſem zu den Beſon- derheiten hinunterzuſteigen. Denn um dort dies Ziel zu errei- chen, müſſen erſt ſämmtliche einzelne Partikularitäten, die viel- leicht regellos auseinandergegangen ſind, in einen Kreis gerückt, mühſam muß für ſie erſt ein Mittelpunkt geſucht und feſtgeſtellt werden. Die Wiſſenſchaft des deutſchen Rechts gewährt uns hierfür einen ſchlagenden Beleg, und die Nachtheile der überwie- gend centrifugalen Richtung des deutſchen Geiſtes ſind auf ihrem Gebiete nicht minder ſichtbar und fühlbar, als auf dem unſerer politiſchen Geſchichte. 140) Wie es im Weſen des römiſchen Gei- 140) Man könnte das Verhältniß der einzelnen Inſtitute des deutſchen Rechts mit dem der deutſchen Bundesſtaaten vergleichen. Dort wie hier daſſelbe aus denſelben Gründen hervorgegangene Verhältniß eines bloßen Bundes (hinſichtlich der erſteren könnte man mitunter in Verſuchung kom- men zu ſagen: eines Bandes im Sinn von Einband), und der Weg zur wah- ren Einheit, die Ausbildung des centralen Moments iſt bei beiden gleich weit und ſchwierig. Der wiſſenſchaftlichen Erforſchung des deutſchen Rechts ſteht gewiß noch eine große Ausbeute an „centralen“ Geſichtspunkten bevor, an latenten höhern Rechtsprinzipien, die in den einzelnen Inſtituten ſich verwirk-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/135>, abgerufen am 24.11.2024.