Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
Ist damit nun schon der Gleichheit vor dem Gesetz ein Ge- nüge geschehen? Gewiß nicht, denn es liegt ja auf der Hand, daß der Gesetzgeber, wenn es ihm auch verwehrt ist, im ein- zelnen Fall eine Ungleichheit, eine Ausnahme von der Regel eintreten zu lassen, dadurch doch an der Einführung einer ge- nerellen Ungleichheit vor dem Gesetz, z. B. durch gesetzliche Bevorzugung oder Zurücksetzung gewisser Stände nicht behindert wird. Es führt mich dies auf einen wichtigen Unterschied, näm- lich auf den, wie ich ihn ausdrücken möchte, der rechtlichen Verschiedenheiten und rechtlichen Ungleichheiten. Daß das Gesetz an gewisse natürliche Unterschiede der Menschen und Sachen rechtliche Verschiedenheiten knüpfen darf und soll, wird, namentlich wo es sich um rein privatrechtliche Beziehungen handelt, sofort einleuchten. Die Stellung der Frau bedingt andere Rechtssätze, als die des Mannes, das Kind kann rechtlich nicht dem Erwachsenen gleich behandelt werden, und die natürliche Verschiedenheit des Gegenstandes, z. B. die Eigenschaft der Beweglichkeit oder Unbeweglichkeit wird gleichfalls auf das Recht nicht ohne Einfluß bleiben können. In politischer Beziehung gilt ganz dasselbe, und es gehört der gänzliche Mangel politi- scher Einsicht und historischer Kenntnisse dazu, um dies zu ver- kennen. Von diesen rechtlichen Verschiedenheiten unterscheide ich nun Ungleichheiten vor dem Gesetz und verstehe darunter Abweichungen von der Regel des Rechts, die nicht durch objek- tive Gründe, sei es durch das Staatswohl oder durch innerliche Verschiedenheiten geboten sind, sondern lediglich das subjektive Interesse eines Standes oder einer Klasse von Personen zum Gegenstande haben, eine Bevorzugung 99) desselben auf Kosten anderer enthalten, und deren letzter Grund also nur in dem Uebergewicht des Einflusses besteht, den dieser Stand auf die
99) Der Kürze wegen habe ich im Text nur auf Bevorzugungen (s. g. privilegia favorabilia) Rücksicht genommen; was von ihnen gesagt ist, gilt aber ebenso wohl von Zurücksetzung (s. g. privil. odiosa).
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Iſt damit nun ſchon der Gleichheit vor dem Geſetz ein Ge- nüge geſchehen? Gewiß nicht, denn es liegt ja auf der Hand, daß der Geſetzgeber, wenn es ihm auch verwehrt iſt, im ein- zelnen Fall eine Ungleichheit, eine Ausnahme von der Regel eintreten zu laſſen, dadurch doch an der Einführung einer ge- nerellen Ungleichheit vor dem Geſetz, z. B. durch geſetzliche Bevorzugung oder Zurückſetzung gewiſſer Stände nicht behindert wird. Es führt mich dies auf einen wichtigen Unterſchied, näm- lich auf den, wie ich ihn ausdrücken möchte, der rechtlichen Verſchiedenheiten und rechtlichen Ungleichheiten. Daß das Geſetz an gewiſſe natürliche Unterſchiede der Menſchen und Sachen rechtliche Verſchiedenheiten knüpfen darf und ſoll, wird, namentlich wo es ſich um rein privatrechtliche Beziehungen handelt, ſofort einleuchten. Die Stellung der Frau bedingt andere Rechtsſätze, als die des Mannes, das Kind kann rechtlich nicht dem Erwachſenen gleich behandelt werden, und die natürliche Verſchiedenheit des Gegenſtandes, z. B. die Eigenſchaft der Beweglichkeit oder Unbeweglichkeit wird gleichfalls auf das Recht nicht ohne Einfluß bleiben können. In politiſcher Beziehung gilt ganz daſſelbe, und es gehört der gänzliche Mangel politi- ſcher Einſicht und hiſtoriſcher Kenntniſſe dazu, um dies zu ver- kennen. Von dieſen rechtlichen Verſchiedenheiten unterſcheide ich nun Ungleichheiten vor dem Geſetz und verſtehe darunter Abweichungen von der Regel des Rechts, die nicht durch objek- tive Gründe, ſei es durch das Staatswohl oder durch innerliche Verſchiedenheiten geboten ſind, ſondern lediglich das ſubjektive Intereſſe eines Standes oder einer Klaſſe von Perſonen zum Gegenſtande haben, eine Bevorzugung 99) deſſelben auf Koſten anderer enthalten, und deren letzter Grund alſo nur in dem Uebergewicht des Einfluſſes beſteht, den dieſer Stand auf die
99) Der Kürze wegen habe ich im Text nur auf Bevorzugungen (ſ. g. privilegia favorabilia) Rückſicht genommen; was von ihnen geſagt iſt, gilt aber ebenſo wohl von Zurückſetzung (ſ. g. privil. odiosa).
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Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Iſt damit nun ſchon der Gleichheit vor dem Geſetz ein Ge-
nüge geſchehen? Gewiß nicht, denn es liegt ja auf der Hand,
daß der Geſetzgeber, wenn es ihm auch verwehrt iſt, im ein-
zelnen Fall eine Ungleichheit, eine Ausnahme von der Regel
eintreten zu laſſen, dadurch doch an der Einführung einer ge-
nerellen Ungleichheit vor dem Geſetz, z. B. durch geſetzliche
Bevorzugung oder Zurückſetzung gewiſſer Stände nicht behindert
wird. Es führt mich dies auf einen wichtigen Unterſchied, näm-
lich auf den, wie ich ihn ausdrücken möchte, der rechtlichen
Verſchiedenheiten und rechtlichen Ungleichheiten.
Daß das Geſetz an gewiſſe natürliche Unterſchiede der Menſchen
und Sachen rechtliche Verſchiedenheiten knüpfen darf und ſoll,
wird, namentlich wo es ſich um rein privatrechtliche Beziehungen
handelt, ſofort einleuchten. Die Stellung der Frau bedingt andere
Rechtsſätze, als die des Mannes, das Kind kann rechtlich nicht
dem Erwachſenen gleich behandelt werden, und die natürliche
Verſchiedenheit des Gegenſtandes, z. B. die Eigenſchaft der
Beweglichkeit oder Unbeweglichkeit wird gleichfalls auf das Recht
nicht ohne Einfluß bleiben können. In politiſcher Beziehung
gilt ganz daſſelbe, und es gehört der gänzliche Mangel politi-
ſcher Einſicht und hiſtoriſcher Kenntniſſe dazu, um dies zu ver-
kennen. Von dieſen rechtlichen Verſchiedenheiten unterſcheide
ich nun Ungleichheiten vor dem Geſetz und verſtehe darunter
Abweichungen von der Regel des Rechts, die nicht durch objek-
tive Gründe, ſei es durch das Staatswohl oder durch innerliche
Verſchiedenheiten geboten ſind, ſondern lediglich das ſubjektive
Intereſſe eines Standes oder einer Klaſſe von Perſonen zum
Gegenſtande haben, eine Bevorzugung 99) deſſelben auf Koſten
anderer enthalten, und deren letzter Grund alſo nur in dem
Uebergewicht des Einfluſſes beſteht, den dieſer Stand auf die
99) Der Kürze wegen habe ich im Text nur auf Bevorzugungen (ſ. g.
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aber ebenſo wohl von Zurückſetzung (ſ. g. privil. odiosa).
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/108>, abgerufen am 16.02.2025.
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