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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
halten94) oder auch dem Richter das Recht dazu einräumen, sei
es in der Weise daß er von vornherein der Regel eine Dehn-
barkeit gibt, die dem richterlichen Ermessen einen völlig freien
Spielraum läßt, wo also die Regel selbst gewissermaßen dem
Individuellen sich anschmiegt; oder in der Weise, daß dem
Richter unter gewissen Voraussetzungen, Beschränkungen und
Garantien verstattet ist, sich über die Regel hinwegzusetzen,
also legislative Function für den einzelnen Fall auszuüben.95)
Immer bleibt aber dies Mittel insofern ein höchst gewag-
tes und bedenkliches, als die rechtliche Beurtheilung damit
den festen Boden der objectiven Rechtsregel verläßt und
sich dem schwankenden Element subjektiver Eindrücke anver-
traut, einem Element, das recht eigentlich das der bewuß-
ten oder unbewußten Willkühr ist.96) Im römischen Privat-
recht97) tritt diese individualisirende Tendenz erst mit dem drit-
ten System auf, dem Geist des ältern Rechts widerstrebt sie
durchaus, und der Eingang ist ihr hier nach allen Seiten ver-
sperrt. Weder soll der Gesetzgeber im einzelnen Fall Ausnah-
men von dem Gesetz anordnen oder eine besondere Norm für
denselben aufstellen,98) noch darf der Richter (der Prätor so

94) Constantin. L. 1 Cod. de leg. (1. 14) Inter aequitatem jusque
interpositam interpretationem nobis solis et oportet et licet inspicere.

Das Recht der Begnadigung u. s. w.
95) Diesen Weg einer Mittelstraße zwischen rein richterlicher und rein
legislativer Thätigkeit schlug bekanntlich in späterer Zeit die prätorische Juris-
diktion ein (Ertheilung von restit. in integrum, Exceptionen, Verweigerung
von Klagen u. s. w.) und die römische Jurisprudenz bestärkte den Prätor da-
rin und ertheilte ihm Rathschläge und Aufforderungen in Bezug auf eine der-
artige Wirksamkeit.
96) Was die römische Jurisprudenz sich nicht verhehlte und verhehlen
konnte; s. z. Paulus in L. 91 §. 3 de V. O. (45. 1) ... esse hanc quae-
stionem de bono et aequo, in quo genere plerumque sub juris auc-
toritate perniciose erratur
.
97) Ueber das Kriminalrecht s. oben S. 42 ff.
98) Die XII Tafeln enthielten eine ausdrückliche, hierauf bezügliche Be-

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
halten94) oder auch dem Richter das Recht dazu einräumen, ſei
es in der Weiſe daß er von vornherein der Regel eine Dehn-
barkeit gibt, die dem richterlichen Ermeſſen einen völlig freien
Spielraum läßt, wo alſo die Regel ſelbſt gewiſſermaßen dem
Individuellen ſich anſchmiegt; oder in der Weiſe, daß dem
Richter unter gewiſſen Vorausſetzungen, Beſchränkungen und
Garantien verſtattet iſt, ſich über die Regel hinwegzuſetzen,
alſo legislative Function für den einzelnen Fall auszuüben.95)
Immer bleibt aber dies Mittel inſofern ein höchſt gewag-
tes und bedenkliches, als die rechtliche Beurtheilung damit
den feſten Boden der objectiven Rechtsregel verläßt und
ſich dem ſchwankenden Element ſubjektiver Eindrücke anver-
traut, einem Element, das recht eigentlich das der bewuß-
ten oder unbewußten Willkühr iſt.96) Im römiſchen Privat-
recht97) tritt dieſe individualiſirende Tendenz erſt mit dem drit-
ten Syſtem auf, dem Geiſt des ältern Rechts widerſtrebt ſie
durchaus, und der Eingang iſt ihr hier nach allen Seiten ver-
ſperrt. Weder ſoll der Geſetzgeber im einzelnen Fall Ausnah-
men von dem Geſetz anordnen oder eine beſondere Norm für
denſelben aufſtellen,98) noch darf der Richter (der Prätor ſo

94) Constantin. L. 1 Cod. de leg. (1. 14) Inter aequitatem jusque
interpositam interpretationem nobis solis et oportet et licet inspicere.

Das Recht der Begnadigung u. ſ. w.
95) Dieſen Weg einer Mittelſtraße zwiſchen rein richterlicher und rein
legislativer Thätigkeit ſchlug bekanntlich in ſpäterer Zeit die prätoriſche Juris-
diktion ein (Ertheilung von restit. in integrum, Exceptionen, Verweigerung
von Klagen u. ſ. w.) und die römiſche Jurisprudenz beſtärkte den Prätor da-
rin und ertheilte ihm Rathſchläge und Aufforderungen in Bezug auf eine der-
artige Wirkſamkeit.
96) Was die römiſche Jurisprudenz ſich nicht verhehlte und verhehlen
konnte; ſ. z. Paulus in L. 91 §. 3 de V. O. (45. 1) … esse hanc quae-
stionem de bono et aequo, in quo genere plerumque sub juris auc-
toritate perniciose erratur
.
97) Ueber das Kriminalrecht ſ. oben S. 42 ff.
98) Die XII Tafeln enthielten eine ausdrückliche, hierauf bezügliche Be-
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[92/0106] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. halten 94) oder auch dem Richter das Recht dazu einräumen, ſei es in der Weiſe daß er von vornherein der Regel eine Dehn- barkeit gibt, die dem richterlichen Ermeſſen einen völlig freien Spielraum läßt, wo alſo die Regel ſelbſt gewiſſermaßen dem Individuellen ſich anſchmiegt; oder in der Weiſe, daß dem Richter unter gewiſſen Vorausſetzungen, Beſchränkungen und Garantien verſtattet iſt, ſich über die Regel hinwegzuſetzen, alſo legislative Function für den einzelnen Fall auszuüben. 95) Immer bleibt aber dies Mittel inſofern ein höchſt gewag- tes und bedenkliches, als die rechtliche Beurtheilung damit den feſten Boden der objectiven Rechtsregel verläßt und ſich dem ſchwankenden Element ſubjektiver Eindrücke anver- traut, einem Element, das recht eigentlich das der bewuß- ten oder unbewußten Willkühr iſt. 96) Im römiſchen Privat- recht 97) tritt dieſe individualiſirende Tendenz erſt mit dem drit- ten Syſtem auf, dem Geiſt des ältern Rechts widerſtrebt ſie durchaus, und der Eingang iſt ihr hier nach allen Seiten ver- ſperrt. Weder ſoll der Geſetzgeber im einzelnen Fall Ausnah- men von dem Geſetz anordnen oder eine beſondere Norm für denſelben aufſtellen, 98) noch darf der Richter (der Prätor ſo 94) Constantin. L. 1 Cod. de leg. (1. 14) Inter aequitatem jusque interpositam interpretationem nobis solis et oportet et licet inspicere. Das Recht der Begnadigung u. ſ. w. 95) Dieſen Weg einer Mittelſtraße zwiſchen rein richterlicher und rein legislativer Thätigkeit ſchlug bekanntlich in ſpäterer Zeit die prätoriſche Juris- diktion ein (Ertheilung von restit. in integrum, Exceptionen, Verweigerung von Klagen u. ſ. w.) und die römiſche Jurisprudenz beſtärkte den Prätor da- rin und ertheilte ihm Rathſchläge und Aufforderungen in Bezug auf eine der- artige Wirkſamkeit. 96) Was die römiſche Jurisprudenz ſich nicht verhehlte und verhehlen konnte; ſ. z. Paulus in L. 91 §. 3 de V. O. (45. 1) … esse hanc quae- stionem de bono et aequo, in quo genere plerumque sub juris auc- toritate perniciose erratur. 97) Ueber das Kriminalrecht ſ. oben S. 42 ff. 98) Die XII Tafeln enthielten eine ausdrückliche, hierauf bezügliche Be-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/106>, abgerufen am 24.11.2024.