Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.II. Der Gleichheitstrieb -- Generalisirung, Unbilligkeit. §. 29. und verfolgen muß, ist Generalisirung92) d. i. Bildung vonKlassen und Aufstellung von Regeln für dieselben. Dabei ist aber die Gefahr, daß das wirklich Ungleiche gleich behandelt wird, gar nicht zu vermeiden. Möge das Recht bei dieser Ge- neralisirung auch immer engere und engere Kreise ziehen, immer weiter hinabsteigen in die Besonderheiten:93) jene Gefahr ist nie ausgeschlossen. So wie die Generalisirung relativ zu weit ist, stellt sich der Conflikt der Gleichheitsidee mit sich selbst d. i. die Unbilligkeit heraus, d. h. das wirklich Ungleiche wird als gleich behandelt, weil die kleine Differenz, die es ungleich macht, im Gesetz nicht beachtet war. Dies er- gibt sich gewöhnlich zuerst an einem einzelnen Fall, an dem jene Differenz in besonders auffälliger Weise sich bemerklich macht. Möge nun dieser Fall auch zur Aufstellung einer neuen für die Zukunft geltenden Regel Veranlassung geben: er selbst wird noch der alten Regel zum Opfer fallen, wenn nicht das Recht hier eine Vorrichtung hat, seine eigne an sich anwendbare Vorschrift außer Kraft zu setzen -- eine Selbstcorrektur des Rechts auf dem Wege des Individualisirens. Hat ein Recht sich einmal das Ziel gesetzt, jenen Conflikt der Gleich- heitsidee mit sich selbst, die Unmöglichkeit einer "Unbilligkeit" nicht zu dulden, so bleibt allerdings kein anderes Mittel übrig. Die Anwendung desselben läßt sich in verschiedener Weise den- ken. Der Gesetzgeber kann sich das Individualisiren selbst vorbe- 92) Oder wie Thöl a. a. O. §. 37 es nennt: Klassificirung. 93) Man könnte dies das Partikularisiren, die entgegengesetzte
Richtung des Rechts das Centralisiren nennen -- zwei allerdings sehr relative Begriffe, aber zur historischen Charakteristik unentbehrlich. Ver- wandt mit dem Partikularisiren ist der Richtung nach das Individuali- siren, von dem nachher im Text die Rede ist, dem Begriff nach aber sehr verschieden, denn es bildet ja den Gegensatz zum Generalisiren. Wo nichts darauf ankommt, beide in Gegensatz zu stellen, kann man gern den Sprach- gebrauch, der beide unter dem einen Ausdruck Individualisiren zusammenfaßt, beibehalten, denn letzterer bezeichnet ja die Steigerung der partikularisirenden Richtung über sich selbst hinaus, involvirt also letztere. II. Der Gleichheitstrieb — Generaliſirung, Unbilligkeit. §. 29. und verfolgen muß, iſt Generaliſirung92) d. i. Bildung vonKlaſſen und Aufſtellung von Regeln für dieſelben. Dabei iſt aber die Gefahr, daß das wirklich Ungleiche gleich behandelt wird, gar nicht zu vermeiden. Möge das Recht bei dieſer Ge- neraliſirung auch immer engere und engere Kreiſe ziehen, immer weiter hinabſteigen in die Beſonderheiten:93) jene Gefahr iſt nie ausgeſchloſſen. So wie die Generaliſirung relativ zu weit iſt, ſtellt ſich der Conflikt der Gleichheitsidee mit ſich ſelbſt d. i. die Unbilligkeit heraus, d. h. das wirklich Ungleiche wird als gleich behandelt, weil die kleine Differenz, die es ungleich macht, im Geſetz nicht beachtet war. Dies er- gibt ſich gewöhnlich zuerſt an einem einzelnen Fall, an dem jene Differenz in beſonders auffälliger Weiſe ſich bemerklich macht. Möge nun dieſer Fall auch zur Aufſtellung einer neuen für die Zukunft geltenden Regel Veranlaſſung geben: er ſelbſt wird noch der alten Regel zum Opfer fallen, wenn nicht das Recht hier eine Vorrichtung hat, ſeine eigne an ſich anwendbare Vorſchrift außer Kraft zu ſetzen — eine Selbſtcorrektur des Rechts auf dem Wege des Individualiſirens. Hat ein Recht ſich einmal das Ziel geſetzt, jenen Conflikt der Gleich- heitsidee mit ſich ſelbſt, die Unmöglichkeit einer „Unbilligkeit“ nicht zu dulden, ſo bleibt allerdings kein anderes Mittel übrig. Die Anwendung deſſelben läßt ſich in verſchiedener Weiſe den- ken. Der Geſetzgeber kann ſich das Individualiſiren ſelbſt vorbe- 92) Oder wie Thöl a. a. O. §. 37 es nennt: Klaſſificirung. 93) Man könnte dies das Partikulariſiren, die entgegengeſetzte
Richtung des Rechts das Centraliſiren nennen — zwei allerdings ſehr relative Begriffe, aber zur hiſtoriſchen Charakteriſtik unentbehrlich. Ver- wandt mit dem Partikulariſiren iſt der Richtung nach das Individuali- ſiren, von dem nachher im Text die Rede iſt, dem Begriff nach aber ſehr verſchieden, denn es bildet ja den Gegenſatz zum Generaliſiren. Wo nichts darauf ankommt, beide in Gegenſatz zu ſtellen, kann man gern den Sprach- gebrauch, der beide unter dem einen Ausdruck Individualiſiren zuſammenfaßt, beibehalten, denn letzterer bezeichnet ja die Steigerung der partikulariſirenden Richtung über ſich ſelbſt hinaus, involvirt alſo letztere. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0105" n="91"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> Der Gleichheitstrieb — Generaliſirung, Unbilligkeit. §. 29.</fw><lb/> und verfolgen muß, iſt <hi rendition="#g">Generaliſirung</hi><note place="foot" n="92)">Oder wie <hi rendition="#g">Thöl</hi> a. a. O. §. 37 es nennt: Klaſſificirung.</note> d. i. Bildung von<lb/> Klaſſen und Aufſtellung von Regeln für dieſelben. Dabei iſt<lb/> aber die Gefahr, daß das wirklich Ungleiche gleich behandelt<lb/> wird, gar nicht zu vermeiden. Möge das Recht bei dieſer Ge-<lb/> neraliſirung auch immer engere und engere Kreiſe ziehen, immer<lb/> weiter hinabſteigen in die Beſonderheiten:<note place="foot" n="93)">Man könnte dies das <hi rendition="#g">Partikulariſiren</hi>, die entgegengeſetzte<lb/> Richtung des Rechts das <hi rendition="#g">Centraliſiren</hi> nennen — zwei allerdings ſehr<lb/> relative Begriffe, aber zur hiſtoriſchen Charakteriſtik unentbehrlich. Ver-<lb/> wandt mit dem Partikulariſiren iſt der <hi rendition="#g">Richtung</hi> nach das <hi rendition="#g">Individuali-<lb/> ſiren</hi>, von dem nachher im Text die Rede iſt, dem Begriff nach aber ſehr<lb/> verſchieden, denn es bildet ja den Gegenſatz zum Generaliſiren. Wo nichts<lb/> darauf ankommt, beide in Gegenſatz zu ſtellen, kann man gern den Sprach-<lb/> gebrauch, der beide unter dem einen Ausdruck Individualiſiren zuſammenfaßt,<lb/> beibehalten, denn letzterer bezeichnet ja die Steigerung der partikulariſirenden<lb/> Richtung über ſich ſelbſt hinaus, involvirt alſo letztere.</note> jene <hi rendition="#g">Gefahr</hi> iſt<lb/> nie ausgeſchloſſen. So wie die Generaliſirung relativ zu weit<lb/> iſt, ſtellt ſich der <hi rendition="#g">Conflikt der Gleichheitsidee mit ſich<lb/> ſelbſt d. i. die Unbilligkeit</hi> heraus, d. h. das wirklich<lb/> Ungleiche wird als gleich behandelt, weil die kleine Differenz,<lb/> die es ungleich macht, im Geſetz nicht beachtet war. Dies er-<lb/> gibt ſich gewöhnlich zuerſt an einem einzelnen Fall, an dem<lb/> jene Differenz in beſonders auffälliger Weiſe ſich bemerklich<lb/> macht. Möge nun dieſer Fall auch zur Aufſtellung einer neuen<lb/> für die Zukunft geltenden Regel Veranlaſſung geben: er ſelbſt<lb/> wird noch der alten Regel zum Opfer fallen, wenn nicht das<lb/> Recht hier eine Vorrichtung hat, ſeine eigne an ſich anwendbare<lb/> Vorſchrift außer Kraft zu ſetzen — eine Selbſtcorrektur des<lb/> Rechts auf dem Wege des <hi rendition="#g">Individualiſirens</hi>. Hat ein<lb/> Recht ſich einmal das Ziel geſetzt, jenen Conflikt der Gleich-<lb/> heitsidee mit ſich ſelbſt, die Unmöglichkeit einer „Unbilligkeit“<lb/> nicht zu dulden, ſo bleibt allerdings kein anderes Mittel übrig.<lb/> Die Anwendung deſſelben läßt ſich in verſchiedener Weiſe den-<lb/> ken. Der Geſetzgeber kann ſich das Individualiſiren ſelbſt vorbe-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [91/0105]
II. Der Gleichheitstrieb — Generaliſirung, Unbilligkeit. §. 29.
und verfolgen muß, iſt Generaliſirung 92) d. i. Bildung von
Klaſſen und Aufſtellung von Regeln für dieſelben. Dabei iſt
aber die Gefahr, daß das wirklich Ungleiche gleich behandelt
wird, gar nicht zu vermeiden. Möge das Recht bei dieſer Ge-
neraliſirung auch immer engere und engere Kreiſe ziehen, immer
weiter hinabſteigen in die Beſonderheiten: 93) jene Gefahr iſt
nie ausgeſchloſſen. So wie die Generaliſirung relativ zu weit
iſt, ſtellt ſich der Conflikt der Gleichheitsidee mit ſich
ſelbſt d. i. die Unbilligkeit heraus, d. h. das wirklich
Ungleiche wird als gleich behandelt, weil die kleine Differenz,
die es ungleich macht, im Geſetz nicht beachtet war. Dies er-
gibt ſich gewöhnlich zuerſt an einem einzelnen Fall, an dem
jene Differenz in beſonders auffälliger Weiſe ſich bemerklich
macht. Möge nun dieſer Fall auch zur Aufſtellung einer neuen
für die Zukunft geltenden Regel Veranlaſſung geben: er ſelbſt
wird noch der alten Regel zum Opfer fallen, wenn nicht das
Recht hier eine Vorrichtung hat, ſeine eigne an ſich anwendbare
Vorſchrift außer Kraft zu ſetzen — eine Selbſtcorrektur des
Rechts auf dem Wege des Individualiſirens. Hat ein
Recht ſich einmal das Ziel geſetzt, jenen Conflikt der Gleich-
heitsidee mit ſich ſelbſt, die Unmöglichkeit einer „Unbilligkeit“
nicht zu dulden, ſo bleibt allerdings kein anderes Mittel übrig.
Die Anwendung deſſelben läßt ſich in verſchiedener Weiſe den-
ken. Der Geſetzgeber kann ſich das Individualiſiren ſelbſt vorbe-
92) Oder wie Thöl a. a. O. §. 37 es nennt: Klaſſificirung.
93) Man könnte dies das Partikulariſiren, die entgegengeſetzte
Richtung des Rechts das Centraliſiren nennen — zwei allerdings ſehr
relative Begriffe, aber zur hiſtoriſchen Charakteriſtik unentbehrlich. Ver-
wandt mit dem Partikulariſiren iſt der Richtung nach das Individuali-
ſiren, von dem nachher im Text die Rede iſt, dem Begriff nach aber ſehr
verſchieden, denn es bildet ja den Gegenſatz zum Generaliſiren. Wo nichts
darauf ankommt, beide in Gegenſatz zu ſtellen, kann man gern den Sprach-
gebrauch, der beide unter dem einen Ausdruck Individualiſiren zuſammenfaßt,
beibehalten, denn letzterer bezeichnet ja die Steigerung der partikulariſirenden
Richtung über ſich ſelbſt hinaus, involvirt alſo letztere.
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