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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Die drei Systeme des Rechts. §. 6.
die Freiheit war Zügellosigkeit, die Sicherheit des Rechts Un-
sicherheit desselben. Mit dem siebenten Jahrhundert der Stadt
tritt diese Wandlung ein, und wie das Maß römischer Kraft
auf das der gewöhnlichen menschlichen Kraft herabsinkt, so
accommodirt sich auch das Recht dieser Thatsache, läßt immer
mehr von seinem streng römischen Charakter ab und nimmt einen
allgemeineren, kosmopolitischen an.

Damit gelangen wir zum dritten System. Das zweite war
seinem Inhalt wie seinen Formen nach auf Römer berechnet und
auf sie beschränkt. Für den Verkehr mit Auswärtigen bildete
sich allmählig ein internationales Recht aus, nicht gebunden
an römische Formen, nicht unterworfen dem Rigorismus der
starren römischen Consequenz und Einseitigkeit, aber auch nicht
theilhaftig jener im römischen Recht liegenden Machtfülle. An
diesem Recht vermochte sich eine freiere, geistigere Erfassung und
Behandlung des Rechts ungehindert zu bethätigen, und in der
Bestimmung desselben für den Weltverkehr lag die Aufforderung
an die Jurisprudenz, sich bei der Ausbildung desselben der rein
national römischen Eigenthümlichkeiten zu entschlagen, also vor-
her sich derselben bewußt zu werden. So ward dies Recht ein
Spiegel der Selbsterkenntniß für das reine römische
Recht und nachdem der Denationalisirungsprozeß des römischen
Volks und in Folge dessen des Rechts selbst begonnen, auch
Muster und Quelle für dasselbe.

Eiserne Willensstärke hatte das zweite System geschaffen
und aufrecht erhalten, die Abnahme derselben führte den Un-
tergang desselben herbei, und das dritte System läßt sich in die-
ser
Beziehung als die Brandstätte römischer Größe und Herr-
lichkeit bezeichnen. Aber es ist in anderer Beziehung unendlich
mehr als ein bloßes farbloses und mattes Residuum des natio-
nalen Rechts; in dieser anderen Beziehung erscheint es nicht als
eine Stufe, zu der man aus Mangel an Kraft hinab gefallen,
sondern zu der man hinauf gestiegen ist. An die Stelle der
moralischen Qualifikation des römischen Volks, die der

Jhering, Geist d. röm. Rechts. 6

Die drei Syſteme des Rechts. §. 6.
die Freiheit war Zügelloſigkeit, die Sicherheit des Rechts Un-
ſicherheit deſſelben. Mit dem ſiebenten Jahrhundert der Stadt
tritt dieſe Wandlung ein, und wie das Maß römiſcher Kraft
auf das der gewöhnlichen menſchlichen Kraft herabſinkt, ſo
accommodirt ſich auch das Recht dieſer Thatſache, läßt immer
mehr von ſeinem ſtreng römiſchen Charakter ab und nimmt einen
allgemeineren, kosmopolitiſchen an.

Damit gelangen wir zum dritten Syſtem. Das zweite war
ſeinem Inhalt wie ſeinen Formen nach auf Römer berechnet und
auf ſie beſchränkt. Für den Verkehr mit Auswärtigen bildete
ſich allmählig ein internationales Recht aus, nicht gebunden
an römiſche Formen, nicht unterworfen dem Rigorismus der
ſtarren römiſchen Conſequenz und Einſeitigkeit, aber auch nicht
theilhaftig jener im römiſchen Recht liegenden Machtfülle. An
dieſem Recht vermochte ſich eine freiere, geiſtigere Erfaſſung und
Behandlung des Rechts ungehindert zu bethätigen, und in der
Beſtimmung deſſelben für den Weltverkehr lag die Aufforderung
an die Jurisprudenz, ſich bei der Ausbildung deſſelben der rein
national römiſchen Eigenthümlichkeiten zu entſchlagen, alſo vor-
her ſich derſelben bewußt zu werden. So ward dies Recht ein
Spiegel der Selbſterkenntniß für das reine römiſche
Recht und nachdem der Denationaliſirungsprozeß des römiſchen
Volks und in Folge deſſen des Rechts ſelbſt begonnen, auch
Muſter und Quelle für daſſelbe.

Eiſerne Willensſtärke hatte das zweite Syſtem geſchaffen
und aufrecht erhalten, die Abnahme derſelben führte den Un-
tergang deſſelben herbei, und das dritte Syſtem läßt ſich in die-
ſer
Beziehung als die Brandſtätte römiſcher Größe und Herr-
lichkeit bezeichnen. Aber es iſt in anderer Beziehung unendlich
mehr als ein bloßes farbloſes und mattes Reſiduum des natio-
nalen Rechts; in dieſer anderen Beziehung erſcheint es nicht als
eine Stufe, zu der man aus Mangel an Kraft hinab gefallen,
ſondern zu der man hinauf geſtiegen iſt. An die Stelle der
moraliſchen Qualifikation des römiſchen Volks, die der

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[81/0099] Die drei Syſteme des Rechts. §. 6. die Freiheit war Zügelloſigkeit, die Sicherheit des Rechts Un- ſicherheit deſſelben. Mit dem ſiebenten Jahrhundert der Stadt tritt dieſe Wandlung ein, und wie das Maß römiſcher Kraft auf das der gewöhnlichen menſchlichen Kraft herabſinkt, ſo accommodirt ſich auch das Recht dieſer Thatſache, läßt immer mehr von ſeinem ſtreng römiſchen Charakter ab und nimmt einen allgemeineren, kosmopolitiſchen an. Damit gelangen wir zum dritten Syſtem. Das zweite war ſeinem Inhalt wie ſeinen Formen nach auf Römer berechnet und auf ſie beſchränkt. Für den Verkehr mit Auswärtigen bildete ſich allmählig ein internationales Recht aus, nicht gebunden an römiſche Formen, nicht unterworfen dem Rigorismus der ſtarren römiſchen Conſequenz und Einſeitigkeit, aber auch nicht theilhaftig jener im römiſchen Recht liegenden Machtfülle. An dieſem Recht vermochte ſich eine freiere, geiſtigere Erfaſſung und Behandlung des Rechts ungehindert zu bethätigen, und in der Beſtimmung deſſelben für den Weltverkehr lag die Aufforderung an die Jurisprudenz, ſich bei der Ausbildung deſſelben der rein national römiſchen Eigenthümlichkeiten zu entſchlagen, alſo vor- her ſich derſelben bewußt zu werden. So ward dies Recht ein Spiegel der Selbſterkenntniß für das reine römiſche Recht und nachdem der Denationaliſirungsprozeß des römiſchen Volks und in Folge deſſen des Rechts ſelbſt begonnen, auch Muſter und Quelle für daſſelbe. Eiſerne Willensſtärke hatte das zweite Syſtem geſchaffen und aufrecht erhalten, die Abnahme derſelben führte den Un- tergang deſſelben herbei, und das dritte Syſtem läßt ſich in die- ſer Beziehung als die Brandſtätte römiſcher Größe und Herr- lichkeit bezeichnen. Aber es iſt in anderer Beziehung unendlich mehr als ein bloßes farbloſes und mattes Reſiduum des natio- nalen Rechts; in dieſer anderen Beziehung erſcheint es nicht als eine Stufe, zu der man aus Mangel an Kraft hinab gefallen, ſondern zu der man hinauf geſtiegen iſt. An die Stelle der moraliſchen Qualifikation des römiſchen Volks, die der Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 6

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/99>, abgerufen am 24.11.2024.