VI. Wir unterscheiden in der Geschichte des römischen Rechts drei Systeme, von denen das zweite, dessen Blüthe mit der der Republik zusammenfällt, das specifisch römische ist, den Triumph und die ausschließliche Herrschaft der rein nationalen Ansicht enthält. Die beiden andern Systeme sind die Endpunkte, durch die dieses Recht mit der außerrömischen Geschichte zusam- menhängt, und zwar durch das erste mit der Vorgeschichte, durch das dritte mit der Nachgeschichte Roms. Das erste ist das ursprüngliche Betriebskapital, das Rom von der Geschichte ent- lehnt, das dritte die reichlich verzinste Schuld und Errungen- schaft, die es ihr dafür zurückerstattet, und welche die Geschichte wiederum anderen Völkern zuwendet. Zur Zeit des ersten Sy- stems ist die römische Nationalität erst in der Bildung, zur Zeit des dritten bereits in der Abnahme begriffen, an beiden bewährt sich aber die römische Kraft, an dem ersten, indem sie dasselbe umgestaltet, an dem dritten, indem sie dasselbe schafft. Die erste That des römischen Geistes auf dem Boden des Rechts besteht darin, daß er sich ein besonderes Gebiet auf demselben ausschei- det, in das er sich zurückzieht, um sich zur höchsten Kraft zu ent- wickeln, die letzte That, daß er selbst die Schranken aufhebt und wieder in die Welt hinaustritt.
Das erste System findet er bereits vor. Die ursprüngliche Bildung desselben fällt über alle urkundliche Geschichte hinaus in jene Zeit, als die Trennung der indogermanischen Völker noch nicht erfolgt war. Noch in der Gestalt, die es in der älte- sten römischen Zeit an sich trägt, hat es unverkennbare Aehn- lichkeit mit dem Recht, das achthundert bis tausend Jahr später bei den Germanen sichtbar wird. 33) Dies System nun wie es
33) Nämlich wie es neuerdings von Sybel in seiner Entstehung des deutschen Königthums meiner Ansicht nach am richtigsten aufgefaßt ist. Die gleichzeitig erschienene, höchst verdienstvolle Schrift von Waitz, deutsche Ver-
Plan der Anordnung. §. 6.
Plan der folgenden Darſtellung.
VI. Wir unterſcheiden in der Geſchichte des römiſchen Rechts drei Syſteme, von denen das zweite, deſſen Blüthe mit der der Republik zuſammenfällt, das ſpecifiſch römiſche iſt, den Triumph und die ausſchließliche Herrſchaft der rein nationalen Anſicht enthält. Die beiden andern Syſteme ſind die Endpunkte, durch die dieſes Recht mit der außerrömiſchen Geſchichte zuſam- menhängt, und zwar durch das erſte mit der Vorgeſchichte, durch das dritte mit der Nachgeſchichte Roms. Das erſte iſt das urſprüngliche Betriebskapital, das Rom von der Geſchichte ent- lehnt, das dritte die reichlich verzinſte Schuld und Errungen- ſchaft, die es ihr dafür zurückerſtattet, und welche die Geſchichte wiederum anderen Völkern zuwendet. Zur Zeit des erſten Sy- ſtems iſt die römiſche Nationalität erſt in der Bildung, zur Zeit des dritten bereits in der Abnahme begriffen, an beiden bewährt ſich aber die römiſche Kraft, an dem erſten, indem ſie daſſelbe umgeſtaltet, an dem dritten, indem ſie daſſelbe ſchafft. Die erſte That des römiſchen Geiſtes auf dem Boden des Rechts beſteht darin, daß er ſich ein beſonderes Gebiet auf demſelben ausſchei- det, in das er ſich zurückzieht, um ſich zur höchſten Kraft zu ent- wickeln, die letzte That, daß er ſelbſt die Schranken aufhebt und wieder in die Welt hinaustritt.
Das erſte Syſtem findet er bereits vor. Die urſprüngliche Bildung deſſelben fällt über alle urkundliche Geſchichte hinaus in jene Zeit, als die Trennung der indogermaniſchen Völker noch nicht erfolgt war. Noch in der Geſtalt, die es in der älte- ſten römiſchen Zeit an ſich trägt, hat es unverkennbare Aehn- lichkeit mit dem Recht, das achthundert bis tauſend Jahr ſpäter bei den Germanen ſichtbar wird. 33) Dies Syſtem nun wie es
33) Nämlich wie es neuerdings von Sybel in ſeiner Entſtehung des deutſchen Königthums meiner Anſicht nach am richtigſten aufgefaßt iſt. Die gleichzeitig erſchienene, höchſt verdienſtvolle Schrift von Waitz, deutſche Ver-
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Plan der Anordnung. §. 6.
Plan der folgenden Darſtellung.
VI. Wir unterſcheiden in der Geſchichte des römiſchen
Rechts drei Syſteme, von denen das zweite, deſſen Blüthe mit
der der Republik zuſammenfällt, das ſpecifiſch römiſche iſt, den
Triumph und die ausſchließliche Herrſchaft der rein nationalen
Anſicht enthält. Die beiden andern Syſteme ſind die Endpunkte,
durch die dieſes Recht mit der außerrömiſchen Geſchichte zuſam-
menhängt, und zwar durch das erſte mit der Vorgeſchichte,
durch das dritte mit der Nachgeſchichte Roms. Das erſte iſt das
urſprüngliche Betriebskapital, das Rom von der Geſchichte ent-
lehnt, das dritte die reichlich verzinſte Schuld und Errungen-
ſchaft, die es ihr dafür zurückerſtattet, und welche die Geſchichte
wiederum anderen Völkern zuwendet. Zur Zeit des erſten Sy-
ſtems iſt die römiſche Nationalität erſt in der Bildung, zur Zeit
des dritten bereits in der Abnahme begriffen, an beiden bewährt
ſich aber die römiſche Kraft, an dem erſten, indem ſie daſſelbe
umgeſtaltet, an dem dritten, indem ſie daſſelbe ſchafft. Die erſte
That des römiſchen Geiſtes auf dem Boden des Rechts beſteht
darin, daß er ſich ein beſonderes Gebiet auf demſelben ausſchei-
det, in das er ſich zurückzieht, um ſich zur höchſten Kraft zu ent-
wickeln, die letzte That, daß er ſelbſt die Schranken aufhebt und
wieder in die Welt hinaustritt.
Das erſte Syſtem findet er bereits vor. Die urſprüngliche
Bildung deſſelben fällt über alle urkundliche Geſchichte hinaus
in jene Zeit, als die Trennung der indogermaniſchen Völker
noch nicht erfolgt war. Noch in der Geſtalt, die es in der älte-
ſten römiſchen Zeit an ſich trägt, hat es unverkennbare Aehn-
lichkeit mit dem Recht, das achthundert bis tauſend Jahr ſpäter
bei den Germanen ſichtbar wird. 33) Dies Syſtem nun wie es
33) Nämlich wie es neuerdings von Sybel in ſeiner Entſtehung des
deutſchen Königthums meiner Anſicht nach am richtigſten aufgefaßt iſt. Die
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/95>, abgerufen am 23.02.2025.
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