Extrem einer Eintagsfliegen-Fruchtbarkeit braucht man leider weniger nach Beispielen zu suchen.
Diese eben entwickelte Schwerfälligkeit und Langsamkeit des Rechts läßt sich mit andern Worten auch so ausdrücken: das Recht bedarf zu seinen Productionen langer Zeiträume. Wir stellen dem nun gegenüber eine zweite Eigenthümlichkeit der Be- ziehung der Zeit zur Rechtsgeschichte, nämlich die Unbestimmtheit und Unsicherheit des Zeitpunktes. Dieselbe hängt mit der Länge der Zeiträume nicht nothwendig zusammen; letztere kann mit scharfer Bestimmung der Zeitpunkte und umgekehrt die Kürze der Zeiträume mit Unbestimmtheit jener verbunden sein.
Der Erlaß eines Gesetzes läßt sich nach Tag und Stunde bestimmen, und wäre die Geschichte des Rechts nichts als eine Geschichte der Gesetze, so würde hier für manche Zeiten die äußerste chronologische Genauigkeit herrschen können. Aber so wichtig es stets in praktischer Beziehung ist, von welchem Zeit moment an ein Gesetz gilt, so wenig ist dies in historischer Beziehung der Fall. Als einziger äußerer Anhaltspunkt mag uns auch hier das Datum des Gesetzes brauchbar sein, aber überschätzen wir nicht den Werth desselben. Nichts wäre irriger, als zu glauben, daß die Geburtsstunde der in dem Gesetz aufge- stellten Rechtsgrundsätze mit jenem Augenblick zusammenträfe. Beide können vielmehr weit auseinanderfallen; wir erinnern an unsere Ausführung über die Formulirung der Rechtssätze. Längst bevor das Gesetz einen Rechtsgrundsatz sanctionirte, kann der- selbe bereits im Leben gegolten haben, und es ist Zufall, daß er gerade jetzt, nicht früher und später ausgesprochen wird. Wie verkehrt wäre es hier, die Entstehung jenes Grundsatzes nach dem Tage des Gesetzes zu datiren.
Aber selbst dieser äußere Anhaltspunkt des Publikations- tages der Gesetze fehlt häufig. Wie manches wichtige Gesetz tritt in der römischen Rechtsgeschichte auf, von dem uns nicht einmal das Jahrhundert, in das es fiel, bezeichnet wird. Und wie vieles bildet sich auf dem Boden des Rechts, ohne nur
Einleitung — die Methode.
Extrem einer Eintagsfliegen-Fruchtbarkeit braucht man leider weniger nach Beiſpielen zu ſuchen.
Dieſe eben entwickelte Schwerfälligkeit und Langſamkeit des Rechts läßt ſich mit andern Worten auch ſo ausdrücken: das Recht bedarf zu ſeinen Productionen langer Zeiträume. Wir ſtellen dem nun gegenüber eine zweite Eigenthümlichkeit der Be- ziehung der Zeit zur Rechtsgeſchichte, nämlich die Unbeſtimmtheit und Unſicherheit des Zeitpunktes. Dieſelbe hängt mit der Länge der Zeiträume nicht nothwendig zuſammen; letztere kann mit ſcharfer Beſtimmung der Zeitpunkte und umgekehrt die Kürze der Zeiträume mit Unbeſtimmtheit jener verbunden ſein.
Der Erlaß eines Geſetzes läßt ſich nach Tag und Stunde beſtimmen, und wäre die Geſchichte des Rechts nichts als eine Geſchichte der Geſetze, ſo würde hier für manche Zeiten die äußerſte chronologiſche Genauigkeit herrſchen können. Aber ſo wichtig es ſtets in praktiſcher Beziehung iſt, von welchem Zeit moment an ein Geſetz gilt, ſo wenig iſt dies in hiſtoriſcher Beziehung der Fall. Als einziger äußerer Anhaltspunkt mag uns auch hier das Datum des Geſetzes brauchbar ſein, aber überſchätzen wir nicht den Werth deſſelben. Nichts wäre irriger, als zu glauben, daß die Geburtsſtunde der in dem Geſetz aufge- ſtellten Rechtsgrundſätze mit jenem Augenblick zuſammenträfe. Beide können vielmehr weit auseinanderfallen; wir erinnern an unſere Ausführung über die Formulirung der Rechtsſätze. Längſt bevor das Geſetz einen Rechtsgrundſatz ſanctionirte, kann der- ſelbe bereits im Leben gegolten haben, und es iſt Zufall, daß er gerade jetzt, nicht früher und ſpäter ausgeſprochen wird. Wie verkehrt wäre es hier, die Entſtehung jenes Grundſatzes nach dem Tage des Geſetzes zu datiren.
Aber ſelbſt dieſer äußere Anhaltspunkt des Publikations- tages der Geſetze fehlt häufig. Wie manches wichtige Geſetz tritt in der römiſchen Rechtsgeſchichte auf, von dem uns nicht einmal das Jahrhundert, in das es fiel, bezeichnet wird. Und wie vieles bildet ſich auf dem Boden des Rechts, ohne nur
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Einleitung — die Methode.
Extrem einer Eintagsfliegen-Fruchtbarkeit braucht man leider
weniger nach Beiſpielen zu ſuchen.
Dieſe eben entwickelte Schwerfälligkeit und Langſamkeit des
Rechts läßt ſich mit andern Worten auch ſo ausdrücken: das
Recht bedarf zu ſeinen Productionen langer Zeiträume. Wir
ſtellen dem nun gegenüber eine zweite Eigenthümlichkeit der Be-
ziehung der Zeit zur Rechtsgeſchichte, nämlich die Unbeſtimmtheit
und Unſicherheit des Zeitpunktes. Dieſelbe hängt mit der
Länge der Zeiträume nicht nothwendig zuſammen; letztere kann
mit ſcharfer Beſtimmung der Zeitpunkte und umgekehrt die Kürze
der Zeiträume mit Unbeſtimmtheit jener verbunden ſein.
Der Erlaß eines Geſetzes läßt ſich nach Tag und Stunde
beſtimmen, und wäre die Geſchichte des Rechts nichts als eine
Geſchichte der Geſetze, ſo würde hier für manche Zeiten die
äußerſte chronologiſche Genauigkeit herrſchen können. Aber ſo
wichtig es ſtets in praktiſcher Beziehung iſt, von welchem
Zeit moment an ein Geſetz gilt, ſo wenig iſt dies in hiſtoriſcher
Beziehung der Fall. Als einziger äußerer Anhaltspunkt mag
uns auch hier das Datum des Geſetzes brauchbar ſein, aber
überſchätzen wir nicht den Werth deſſelben. Nichts wäre irriger,
als zu glauben, daß die Geburtsſtunde der in dem Geſetz aufge-
ſtellten Rechtsgrundſätze mit jenem Augenblick zuſammenträfe.
Beide können vielmehr weit auseinanderfallen; wir erinnern an
unſere Ausführung über die Formulirung der Rechtsſätze. Längſt
bevor das Geſetz einen Rechtsgrundſatz ſanctionirte, kann der-
ſelbe bereits im Leben gegolten haben, und es iſt Zufall, daß er
gerade jetzt, nicht früher und ſpäter ausgeſprochen wird.
Wie verkehrt wäre es hier, die Entſtehung jenes Grundſatzes
nach dem Tage des Geſetzes zu datiren.
Aber ſelbſt dieſer äußere Anhaltspunkt des Publikations-
tages der Geſetze fehlt häufig. Wie manches wichtige Geſetz
tritt in der römiſchen Rechtsgeſchichte auf, von dem uns nicht
einmal das Jahrhundert, in das es fiel, bezeichnet wird. Und
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/82>, abgerufen am 05.07.2024.
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