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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Die Geschichte des Rechts. §. 5.
Bewegung der Weltkörper im Raum ist die Bewegung der sitt-
lichen Gedanken in der Zeit, denn sie gehen nicht unangefochten
einher wie die Gestirne, sondern sie stoßen bei jedem Schritt auf
den Widerstand, den menschlicher Eigensinn und Unverstand und
alle bösen Gewalten des menschlichen Herzens ihnen entgegen-
setzen. Wenn sie dennoch sich verwirklichen im bunten Gewirre
widerstrebender Kräfte, wenn das sittliche Planetensystem mit
derselben Ordnung und Harmonie sich bewegt, wie das Plane-
tensystem des Himmels, so liegt darin ein glänzenderer Beweis
der göttlichen Weltleitung, als in allem, was man der äußeren
Natur entnehmen kann. Man hat von der Poesie im Recht ge-
sprochen und darunter die Aeußerung der sinnigen, gemüthlichen
Auffassung verstanden, wie sie auf dem Gebiete des Rechts in
manchen Formen sich kund gibt. Aber dies ist eine Poesie unter-
geordneter Art und spielt im Recht nur eine höchst kümmerliche
Rolle, die wahre Poesie des Rechts liegt in der Erhabenheit
seines Problems und in seiner an Majestät und Gesetzmäßigkeit
dem Laufe der Gestirne vergleichbaren Bewegung. Das römische
Recht ist nun vor allem geeignet, uns diese Poesie der Ordnung
und Gedankenmäßigkeit der Rechtsentwicklung zu bewähren; in
meinen Augen ist die Geschichte dieses Rechts ein unübertroffe-
nes Kunstwerk, in dem die höchste Einfachheit und Einheit mit
der reichsten Fülle der Entwicklung sich paart. Zu diesem Aus-
spruche bilden freilich die meisten Darstellungen der römischen
Rechtsgeschichte einen schneidenden Contrast. Statt die Einheit
in der historischen Bewegung sämmtlicher Institute nachzuweisen,
führen sie uns nur eine Reihe von Veränderungen vor, die nichts
mit einander gemein zu haben scheinen, zerreißen den Stoff in
innere und äußere Rechtsgeschichte, stellen letztern nach Perio-
den dar (sogenannte synchronistische Methode) diese hingegen
nicht (s. g. chronologische Methode), negiren also damit von
vornherein die Geschichte des Rechts in seiner Totalität. Der
Grund, mit dem sie dies Verfahren zu rechtfertigen suchen, daß
die einzelnen Institute sich nicht gleichmäßig entwickelt hät-

Die Geſchichte des Rechts. §. 5.
Bewegung der Weltkörper im Raum iſt die Bewegung der ſitt-
lichen Gedanken in der Zeit, denn ſie gehen nicht unangefochten
einher wie die Geſtirne, ſondern ſie ſtoßen bei jedem Schritt auf
den Widerſtand, den menſchlicher Eigenſinn und Unverſtand und
alle böſen Gewalten des menſchlichen Herzens ihnen entgegen-
ſetzen. Wenn ſie dennoch ſich verwirklichen im bunten Gewirre
widerſtrebender Kräfte, wenn das ſittliche Planetenſyſtem mit
derſelben Ordnung und Harmonie ſich bewegt, wie das Plane-
tenſyſtem des Himmels, ſo liegt darin ein glänzenderer Beweis
der göttlichen Weltleitung, als in allem, was man der äußeren
Natur entnehmen kann. Man hat von der Poeſie im Recht ge-
ſprochen und darunter die Aeußerung der ſinnigen, gemüthlichen
Auffaſſung verſtanden, wie ſie auf dem Gebiete des Rechts in
manchen Formen ſich kund gibt. Aber dies iſt eine Poeſie unter-
geordneter Art und ſpielt im Recht nur eine höchſt kümmerliche
Rolle, die wahre Poeſie des Rechts liegt in der Erhabenheit
ſeines Problems und in ſeiner an Majeſtät und Geſetzmäßigkeit
dem Laufe der Geſtirne vergleichbaren Bewegung. Das römiſche
Recht iſt nun vor allem geeignet, uns dieſe Poeſie der Ordnung
und Gedankenmäßigkeit der Rechtsentwicklung zu bewähren; in
meinen Augen iſt die Geſchichte dieſes Rechts ein unübertroffe-
nes Kunſtwerk, in dem die höchſte Einfachheit und Einheit mit
der reichſten Fülle der Entwicklung ſich paart. Zu dieſem Aus-
ſpruche bilden freilich die meiſten Darſtellungen der römiſchen
Rechtsgeſchichte einen ſchneidenden Contraſt. Statt die Einheit
in der hiſtoriſchen Bewegung ſämmtlicher Inſtitute nachzuweiſen,
führen ſie uns nur eine Reihe von Veränderungen vor, die nichts
mit einander gemein zu haben ſcheinen, zerreißen den Stoff in
innere und äußere Rechtsgeſchichte, ſtellen letztern nach Perio-
den dar (ſogenannte ſynchroniſtiſche Methode) dieſe hingegen
nicht (ſ. g. chronologiſche Methode), negiren alſo damit von
vornherein die Geſchichte des Rechts in ſeiner Totalität. Der
Grund, mit dem ſie dies Verfahren zu rechtfertigen ſuchen, daß
die einzelnen Inſtitute ſich nicht gleichmäßig entwickelt hät-

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[55/0073] Die Geſchichte des Rechts. §. 5. Bewegung der Weltkörper im Raum iſt die Bewegung der ſitt- lichen Gedanken in der Zeit, denn ſie gehen nicht unangefochten einher wie die Geſtirne, ſondern ſie ſtoßen bei jedem Schritt auf den Widerſtand, den menſchlicher Eigenſinn und Unverſtand und alle böſen Gewalten des menſchlichen Herzens ihnen entgegen- ſetzen. Wenn ſie dennoch ſich verwirklichen im bunten Gewirre widerſtrebender Kräfte, wenn das ſittliche Planetenſyſtem mit derſelben Ordnung und Harmonie ſich bewegt, wie das Plane- tenſyſtem des Himmels, ſo liegt darin ein glänzenderer Beweis der göttlichen Weltleitung, als in allem, was man der äußeren Natur entnehmen kann. Man hat von der Poeſie im Recht ge- ſprochen und darunter die Aeußerung der ſinnigen, gemüthlichen Auffaſſung verſtanden, wie ſie auf dem Gebiete des Rechts in manchen Formen ſich kund gibt. Aber dies iſt eine Poeſie unter- geordneter Art und ſpielt im Recht nur eine höchſt kümmerliche Rolle, die wahre Poeſie des Rechts liegt in der Erhabenheit ſeines Problems und in ſeiner an Majeſtät und Geſetzmäßigkeit dem Laufe der Geſtirne vergleichbaren Bewegung. Das römiſche Recht iſt nun vor allem geeignet, uns dieſe Poeſie der Ordnung und Gedankenmäßigkeit der Rechtsentwicklung zu bewähren; in meinen Augen iſt die Geſchichte dieſes Rechts ein unübertroffe- nes Kunſtwerk, in dem die höchſte Einfachheit und Einheit mit der reichſten Fülle der Entwicklung ſich paart. Zu dieſem Aus- ſpruche bilden freilich die meiſten Darſtellungen der römiſchen Rechtsgeſchichte einen ſchneidenden Contraſt. Statt die Einheit in der hiſtoriſchen Bewegung ſämmtlicher Inſtitute nachzuweiſen, führen ſie uns nur eine Reihe von Veränderungen vor, die nichts mit einander gemein zu haben ſcheinen, zerreißen den Stoff in innere und äußere Rechtsgeſchichte, ſtellen letztern nach Perio- den dar (ſogenannte ſynchroniſtiſche Methode) dieſe hingegen nicht (ſ. g. chronologiſche Methode), negiren alſo damit von vornherein die Geſchichte des Rechts in ſeiner Totalität. Der Grund, mit dem ſie dies Verfahren zu rechtfertigen ſuchen, daß die einzelnen Inſtitute ſich nicht gleichmäßig entwickelt hät-

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/73>, abgerufen am 27.11.2024.