2. Anforderungen, die in dem Begriff der Geschichte liegen -- Ausscheidung der unwesentlichen Thatsachen -- Der innere Zu- sammenhang der Thatsachen und das Moment der Zeit -- Innere Chronologie oder absolute und relative Zeitbestimmung nach inneren Kriterien.
V. Daß das Recht wie alles, was existirt, sich im Laufe der Zeit verändert, ist eine Thatsache, die uns an sich noch nicht berechtigt von einer Geschichte des Rechts zu sprechen. Wenn die Geschichte nichts wäre, als ein buntes Spiel von äußern Ereig- nissen, eine Reihe von Veränderungen, so würde es auch eine Geschichte von Wind und Wetter geben, und eine Rechts- geschichte würde sich auf den chronologisch geordneten Abdruck von Gesetzen und Gewohnheitsrechten beschränken können.
Es drängt sich aber schon dem einfachen Verstande die Bemerkung auf, daß nicht alles, was da geschieht, Ge- schichte ist und folglich auch die Geschichte nicht bloß darin be- steht, daß etwas geschieht, sondern daß es darauf ankömmt, was geschieht. Auf der niedrigsten Stufe der Geschichtschrei- bung tritt bereits die Scheidung zwischen wesentlichen und unwesentlichen, geschichtlichen und ungeschichtli- chen Ereignissen ein. Wie von Seiten des Individuums täglich und stündlich Handlungen vorgenommen werden, die kein Bio- graph der Mittheilung würdigen kann, so gibt es auch im Le- ben der Gattung derartige tägliche Verrichtungen, die selbst der genauste Annalist als völlig ungeschichtliche Facta gar nicht erwähnt.
So sehr aber jene Scheidung zwischen Ereignissen, die der Mittheilung werth und unwerth sind, bei den Geschichtschreibern aller Zeiten sich zeigt, so ist begreiflich, daß der Maßstab, nach dem man dieselbe vornimmt, nach Zeit und Ort verschieden sein kann. Was dem gleichzeitigen Berichterstatter der Aufbe- wahrung würdig zu sein scheint, wird schon vom Geschichtschrei-
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Der Begriff der Geſchichte. §. 5.
2. Anforderungen, die in dem Begriff der Geſchichte liegen — Ausſcheidung der unweſentlichen Thatſachen — Der innere Zu- ſammenhang der Thatſachen und das Moment der Zeit — Innere Chronologie oder abſolute und relative Zeitbeſtimmung nach inneren Kriterien.
V. Daß das Recht wie alles, was exiſtirt, ſich im Laufe der Zeit verändert, iſt eine Thatſache, die uns an ſich noch nicht berechtigt von einer Geſchichte des Rechts zu ſprechen. Wenn die Geſchichte nichts wäre, als ein buntes Spiel von äußern Ereig- niſſen, eine Reihe von Veränderungen, ſo würde es auch eine Geſchichte von Wind und Wetter geben, und eine Rechts- geſchichte würde ſich auf den chronologiſch geordneten Abdruck von Geſetzen und Gewohnheitsrechten beſchränken können.
Es drängt ſich aber ſchon dem einfachen Verſtande die Bemerkung auf, daß nicht alles, was da geſchieht, Ge- ſchichte iſt und folglich auch die Geſchichte nicht bloß darin be- ſteht, daß etwas geſchieht, ſondern daß es darauf ankömmt, was geſchieht. Auf der niedrigſten Stufe der Geſchichtſchrei- bung tritt bereits die Scheidung zwiſchen weſentlichen und unweſentlichen, geſchichtlichen und ungeſchichtli- chen Ereigniſſen ein. Wie von Seiten des Individuums täglich und ſtündlich Handlungen vorgenommen werden, die kein Bio- graph der Mittheilung würdigen kann, ſo gibt es auch im Le- ben der Gattung derartige tägliche Verrichtungen, die ſelbſt der genauſte Annaliſt als völlig ungeſchichtliche Facta gar nicht erwähnt.
So ſehr aber jene Scheidung zwiſchen Ereigniſſen, die der Mittheilung werth und unwerth ſind, bei den Geſchichtſchreibern aller Zeiten ſich zeigt, ſo iſt begreiflich, daß der Maßſtab, nach dem man dieſelbe vornimmt, nach Zeit und Ort verſchieden ſein kann. Was dem gleichzeitigen Berichterſtatter der Aufbe- wahrung würdig zu ſein ſcheint, wird ſchon vom Geſchichtſchrei-
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Der Begriff der Geſchichte. §. 5.
2. Anforderungen, die in dem Begriff der Geſchichte liegen —
Ausſcheidung der unweſentlichen Thatſachen — Der innere Zu-
ſammenhang der Thatſachen und das Moment der Zeit — Innere
Chronologie oder abſolute und relative Zeitbeſtimmung
nach inneren Kriterien.
V. Daß das Recht wie alles, was exiſtirt, ſich im Laufe
der Zeit verändert, iſt eine Thatſache, die uns an ſich noch nicht
berechtigt von einer Geſchichte des Rechts zu ſprechen. Wenn die
Geſchichte nichts wäre, als ein buntes Spiel von äußern Ereig-
niſſen, eine Reihe von Veränderungen, ſo würde es auch
eine Geſchichte von Wind und Wetter geben, und eine Rechts-
geſchichte würde ſich auf den chronologiſch geordneten Abdruck
von Geſetzen und Gewohnheitsrechten beſchränken können.
Es drängt ſich aber ſchon dem einfachen Verſtande die
Bemerkung auf, daß nicht alles, was da geſchieht, Ge-
ſchichte iſt und folglich auch die Geſchichte nicht bloß darin be-
ſteht, daß etwas geſchieht, ſondern daß es darauf ankömmt,
was geſchieht. Auf der niedrigſten Stufe der Geſchichtſchrei-
bung tritt bereits die Scheidung zwiſchen weſentlichen und
unweſentlichen, geſchichtlichen und ungeſchichtli-
chen Ereigniſſen ein. Wie von Seiten des Individuums täglich
und ſtündlich Handlungen vorgenommen werden, die kein Bio-
graph der Mittheilung würdigen kann, ſo gibt es auch im Le-
ben der Gattung derartige tägliche Verrichtungen, die ſelbſt der
genauſte Annaliſt als völlig ungeſchichtliche Facta gar nicht
erwähnt.
So ſehr aber jene Scheidung zwiſchen Ereigniſſen, die der
Mittheilung werth und unwerth ſind, bei den Geſchichtſchreibern
aller Zeiten ſich zeigt, ſo iſt begreiflich, daß der Maßſtab,
nach dem man dieſelbe vornimmt, nach Zeit und Ort verſchieden
ſein kann. Was dem gleichzeitigen Berichterſtatter der Aufbe-
wahrung würdig zu ſein ſcheint, wird ſchon vom Geſchichtſchrei-
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/69>, abgerufen am 05.07.2024.
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