Es ist nun die Aufgabe der Wissenschaft, diese Gliederung des Rechts zu erforschen, für das Kleinste wie das Größte die richtige Stelle aufzusuchen. Diese systematische Seite der Juris- prudenz ist für die Erkenntniß des Rechts von ungleich höherer Bedeutung, als es auf den ersten Blick scheint, und wir wollen sie daher einer genaueren Betrachtung unterziehen.
Diese Bedeutung besteht nicht darin, daß das Rechtohne seinen systematischen Zusammenhang nicht verstanden werden kann, denn das ist bei jedem Gegenstande der Erkenntniß der Fall. Auch bedarf das heutzutage wohl keiner Bemerkung, daß das System ebensowenig beim Recht wie bei jedem andern Ge- genstande eine Ordnung sein soll, die man in die Sache hin- ein bringt, sondern eine solche, die man herausholt. Jene ist die der Sache selbst fremde Logik eines Schematismus, in den sie gewaltsam hineingepreßt wird; es ist ein Netz, das man ebensogut über dies als über jenes Recht werfen könnte, und das die Auffassung der Structur des individuellen Gegenstandes mehr erschwert, als erleichtert. System ist gleichbedeutend mit innerer Ordnung der Sache selbst und ist daher immer ganz individuell; diesem Rechte ist ein anderes System eigenthümlich, als jenem. Bei dem Rechte besteht nun das Unterscheidende der systematischen Thätigkeit darin, daß dadurch nicht bloß wie bei jeder andern Wissenschaft das einzelne an seine richtige Stelle gebracht wird, sondern daß dieser formale Prozeß eine mate- rielle Rückwirkung auf den Stoff ausübt, daß mit letzterem, nämlich den Rechtssätzen, eine innere Umwandlung vor sich geht. Die Rechtssätze treten gewissermaßen in einen höhern Aggregatzustand, sie streifen ihre Form als Gebote und Verbote ab und verflüchtigen sich zu Elementen und Qua- litäten der Rechtsinstitute. So bilden sich aus ihnen z. B. die Begriffe der Institute, der Thatbestand der Rechtsgeschäfte, die Eigenschaften der Personen, Sachen, Rechte, Eintheilungen aller Art u. s. w. Ein Laie, der gewohnt ist, sich einen Rechts- satz in imperativischer Form zu denken, würde es kaum für mög-
Einleitung — die Methode.
Es iſt nun die Aufgabe der Wiſſenſchaft, dieſe Gliederung des Rechts zu erforſchen, für das Kleinſte wie das Größte die richtige Stelle aufzuſuchen. Dieſe ſyſtematiſche Seite der Juris- prudenz iſt für die Erkenntniß des Rechts von ungleich höherer Bedeutung, als es auf den erſten Blick ſcheint, und wir wollen ſie daher einer genaueren Betrachtung unterziehen.
Dieſe Bedeutung beſteht nicht darin, daß das Rechtohne ſeinen ſyſtematiſchen Zuſammenhang nicht verſtanden werden kann, denn das iſt bei jedem Gegenſtande der Erkenntniß der Fall. Auch bedarf das heutzutage wohl keiner Bemerkung, daß das Syſtem ebenſowenig beim Recht wie bei jedem andern Ge- genſtande eine Ordnung ſein ſoll, die man in die Sache hin- ein bringt, ſondern eine ſolche, die man herausholt. Jene iſt die der Sache ſelbſt fremde Logik eines Schematismus, in den ſie gewaltſam hineingepreßt wird; es iſt ein Netz, das man ebenſogut über dies als über jenes Recht werfen könnte, und das die Auffaſſung der Structur des individuellen Gegenſtandes mehr erſchwert, als erleichtert. Syſtem iſt gleichbedeutend mit innerer Ordnung der Sache ſelbſt und iſt daher immer ganz individuell; dieſem Rechte iſt ein anderes Syſtem eigenthümlich, als jenem. Bei dem Rechte beſteht nun das Unterſcheidende der ſyſtematiſchen Thätigkeit darin, daß dadurch nicht bloß wie bei jeder andern Wiſſenſchaft das einzelne an ſeine richtige Stelle gebracht wird, ſondern daß dieſer formale Prozeß eine mate- rielle Rückwirkung auf den Stoff ausübt, daß mit letzterem, nämlich den Rechtsſätzen, eine innere Umwandlung vor ſich geht. Die Rechtsſätze treten gewiſſermaßen in einen höhern Aggregatzuſtand, ſie ſtreifen ihre Form als Gebote und Verbote ab und verflüchtigen ſich zu Elementen und Qua- litäten der Rechtsinſtitute. So bilden ſich aus ihnen z. B. die Begriffe der Inſtitute, der Thatbeſtand der Rechtsgeſchäfte, die Eigenſchaften der Perſonen, Sachen, Rechte, Eintheilungen aller Art u. ſ. w. Ein Laie, der gewohnt iſt, ſich einen Rechts- ſatz in imperativiſcher Form zu denken, würde es kaum für mög-
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Einleitung — die Methode.
Es iſt nun die Aufgabe der Wiſſenſchaft, dieſe Gliederung
des Rechts zu erforſchen, für das Kleinſte wie das Größte die
richtige Stelle aufzuſuchen. Dieſe ſyſtematiſche Seite der Juris-
prudenz iſt für die Erkenntniß des Rechts von ungleich höherer
Bedeutung, als es auf den erſten Blick ſcheint, und wir wollen
ſie daher einer genaueren Betrachtung unterziehen.
Dieſe Bedeutung beſteht nicht darin, daß das Rechtohne
ſeinen ſyſtematiſchen Zuſammenhang nicht verſtanden werden
kann, denn das iſt bei jedem Gegenſtande der Erkenntniß der
Fall. Auch bedarf das heutzutage wohl keiner Bemerkung, daß
das Syſtem ebenſowenig beim Recht wie bei jedem andern Ge-
genſtande eine Ordnung ſein ſoll, die man in die Sache hin-
ein bringt, ſondern eine ſolche, die man herausholt. Jene
iſt die der Sache ſelbſt fremde Logik eines Schematismus, in
den ſie gewaltſam hineingepreßt wird; es iſt ein Netz, das man
ebenſogut über dies als über jenes Recht werfen könnte, und
das die Auffaſſung der Structur des individuellen Gegenſtandes
mehr erſchwert, als erleichtert. Syſtem iſt gleichbedeutend mit
innerer Ordnung der Sache ſelbſt und iſt daher immer ganz
individuell; dieſem Rechte iſt ein anderes Syſtem eigenthümlich,
als jenem. Bei dem Rechte beſteht nun das Unterſcheidende der
ſyſtematiſchen Thätigkeit darin, daß dadurch nicht bloß wie bei
jeder andern Wiſſenſchaft das einzelne an ſeine richtige Stelle
gebracht wird, ſondern daß dieſer formale Prozeß eine mate-
rielle Rückwirkung auf den Stoff ausübt, daß mit letzterem,
nämlich den Rechtsſätzen, eine innere Umwandlung vor ſich
geht. Die Rechtsſätze treten gewiſſermaßen in einen
höhern Aggregatzuſtand, ſie ſtreifen ihre Form als Gebote
und Verbote ab und verflüchtigen ſich zu Elementen und Qua-
litäten der Rechtsinſtitute. So bilden ſich aus ihnen z. B. die
Begriffe der Inſtitute, der Thatbeſtand der Rechtsgeſchäfte, die
Eigenſchaften der Perſonen, Sachen, Rechte, Eintheilungen
aller Art u. ſ. w. Ein Laie, der gewohnt iſt, ſich einen Rechts-
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/44>, abgerufen am 05.07.2024.
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