Wir gehen jetzt in der Betrachtung der Structur des Rechts- organismus einen Schritt weiter. Die Rechtssätze, welche wir bisher behandelt haben, wurden oben von uns die praktischen Spitzen des Rechts genannt; sie bilden gewissermaßen die äußere sichtbare Oberfläche des Rechts und bezeichnen, wo sie in irgend einem Recht ausschließlich und in ihrer ursprünglichen imperativischen Form gefunden werden, eine niedere Entwick- lungsstufe desselben. Wie sich nun sowohl neben ihnen als aus ihnen höhere Bildungen des Rechts erheben, soll jetzt gezeigt werden.
Die Rechtssätze sind abstrahirt aus einer Betrachtung der Lebensverhältnisse und bestimmt, die denselben innewohnende Natur auszusprechen und sie ihnen zu sichern. Zur Bildung der rechtlichen Form eines einzigen Lebensverhältnisses können aber mehre Rechtssätze zusammenwirken; sie finden also in diesem ihrem gemeinsamen Gegenstande ihren Vereinigungspunkt und lagern sich um ihn wie die Muskeln um den Knochen. Das in dieser Weise rechtlich geformte Lebensverhältniß kann seinerseits wiederum in abhängiger Beziehung zu einem andern stehen, sich zu demselben verhalten z. B. als Phase, als ein transitorisches Moment desselben, wie der Erwerb und Verlust der Rechte zu den Rechten selbst; oder als Folge, wie die Succession des Erben in die Schulden des Erblassers zu der Antretung der Erbschaft; oder als Spezies zu der Gattung, wie der Kaufcontrakt zu den Contrakten, und diese zu den Obligationen. Auf diese Weise schießen denn die vielen mannigfaltigen Rechtsverhältnisse zu einigen weiten Grundformen zusammen, die ihrem Begriff, Zweck und ihrer Structur nach von einander geschieden sind; man nennt sie Rechtsinstitute. 12) Sie bilden gewissermaßen das feste Knochengerippe des Rechts, um das die ganze Substanz desselben sich lagert.
12) So spricht man z. B. von dem Rechtsinstitut des Eigenthums, Erbrechts, Prozesses, der Vormundschaft u. s. w.
Syſtematiſche Gliederung der Rechtsſätze. §. 3.
Wir gehen jetzt in der Betrachtung der Structur des Rechts- organismus einen Schritt weiter. Die Rechtsſätze, welche wir bisher behandelt haben, wurden oben von uns die praktiſchen Spitzen des Rechts genannt; ſie bilden gewiſſermaßen die äußere ſichtbare Oberfläche des Rechts und bezeichnen, wo ſie in irgend einem Recht ausſchließlich und in ihrer urſprünglichen imperativiſchen Form gefunden werden, eine niedere Entwick- lungsſtufe deſſelben. Wie ſich nun ſowohl neben ihnen als aus ihnen höhere Bildungen des Rechts erheben, ſoll jetzt gezeigt werden.
Die Rechtsſätze ſind abſtrahirt aus einer Betrachtung der Lebensverhältniſſe und beſtimmt, die denſelben innewohnende Natur auszuſprechen und ſie ihnen zu ſichern. Zur Bildung der rechtlichen Form eines einzigen Lebensverhältniſſes können aber mehre Rechtsſätze zuſammenwirken; ſie finden alſo in dieſem ihrem gemeinſamen Gegenſtande ihren Vereinigungspunkt und lagern ſich um ihn wie die Muskeln um den Knochen. Das in dieſer Weiſe rechtlich geformte Lebensverhältniß kann ſeinerſeits wiederum in abhängiger Beziehung zu einem andern ſtehen, ſich zu demſelben verhalten z. B. als Phaſe, als ein tranſitoriſches Moment deſſelben, wie der Erwerb und Verluſt der Rechte zu den Rechten ſelbſt; oder als Folge, wie die Succeſſion des Erben in die Schulden des Erblaſſers zu der Antretung der Erbſchaft; oder als Spezies zu der Gattung, wie der Kaufcontrakt zu den Contrakten, und dieſe zu den Obligationen. Auf dieſe Weiſe ſchießen denn die vielen mannigfaltigen Rechtsverhältniſſe zu einigen weiten Grundformen zuſammen, die ihrem Begriff, Zweck und ihrer Structur nach von einander geſchieden ſind; man nennt ſie Rechtsinſtitute. 12) Sie bilden gewiſſermaßen das feſte Knochengerippe des Rechts, um das die ganze Subſtanz deſſelben ſich lagert.
12) So ſpricht man z. B. von dem Rechtsinſtitut des Eigenthums, Erbrechts, Prozeſſes, der Vormundſchaft u. ſ. w.
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Syſtematiſche Gliederung der Rechtsſätze. §. 3.
Wir gehen jetzt in der Betrachtung der Structur des Rechts-
organismus einen Schritt weiter. Die Rechtsſätze, welche wir
bisher behandelt haben, wurden oben von uns die praktiſchen
Spitzen des Rechts genannt; ſie bilden gewiſſermaßen die
äußere ſichtbare Oberfläche des Rechts und bezeichnen, wo ſie
in irgend einem Recht ausſchließlich und in ihrer urſprünglichen
imperativiſchen Form gefunden werden, eine niedere Entwick-
lungsſtufe deſſelben. Wie ſich nun ſowohl neben ihnen als aus
ihnen höhere Bildungen des Rechts erheben, ſoll jetzt gezeigt
werden.
Die Rechtsſätze ſind abſtrahirt aus einer Betrachtung der
Lebensverhältniſſe und beſtimmt, die denſelben innewohnende
Natur auszuſprechen und ſie ihnen zu ſichern. Zur Bildung der
rechtlichen Form eines einzigen Lebensverhältniſſes können aber
mehre Rechtsſätze zuſammenwirken; ſie finden alſo in dieſem
ihrem gemeinſamen Gegenſtande ihren Vereinigungspunkt und
lagern ſich um ihn wie die Muskeln um den Knochen. Das in
dieſer Weiſe rechtlich geformte Lebensverhältniß kann ſeinerſeits
wiederum in abhängiger Beziehung zu einem andern ſtehen, ſich
zu demſelben verhalten z. B. als Phaſe, als ein tranſitoriſches
Moment deſſelben, wie der Erwerb und Verluſt der Rechte zu
den Rechten ſelbſt; oder als Folge, wie die Succeſſion des Erben
in die Schulden des Erblaſſers zu der Antretung der Erbſchaft;
oder als Spezies zu der Gattung, wie der Kaufcontrakt zu den
Contrakten, und dieſe zu den Obligationen. Auf dieſe Weiſe
ſchießen denn die vielen mannigfaltigen Rechtsverhältniſſe zu
einigen weiten Grundformen zuſammen, die ihrem Begriff,
Zweck und ihrer Structur nach von einander geſchieden ſind;
man nennt ſie Rechtsinſtitute. 12) Sie bilden gewiſſermaßen das
feſte Knochengerippe des Rechts, um das die ganze Subſtanz
deſſelben ſich lagert.
12) So ſpricht man z. B. von dem Rechtsinſtitut des Eigenthums,
Erbrechts, Prozeſſes, der Vormundſchaft u. ſ. w.
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/43>, abgerufen am 25.07.2024.
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