Nachdem wir jetzt dies Resultat gefunden haben, daß zwi- schen dem objektiven Recht, wie es thatsächlich lebt und leibt, und seiner Fassung in Form von Rechtssätzen (wir können sie auch die Theorie des Rechts nennen) keine vollständige Congruenz besteht, wollen wir eine Frage beantworten, die sich gewiß man- chem Leser aufdrängt. Nämlich man könnte meinen, daß jene mangelhaften Formulirungen eine nachtheilige Rückwirkung auf das Recht selbst ausüben müßten. Wie verhält es sich damit? Man muß unterscheiden. Gerade zu den Zeiten, wo sie am un- vollkommensten sind, weil das Formulirungsvermögen auf der niedrigsten Stufe steht. droht diese Gefahr am wenigsten. Wo nämlich die Anwendung derselben zu einem Widerspruch mit dem Recht, wie es objektiv in der Wirklichkeit und subjektiv in dem Gefühl und der Anschauung lebt, führen würde, tritt letztere rectificirend dazwischen. 7) Zwischen den Rechtssätzen und dem wirklichen Recht besteht hier also das Verhältniß, welches ein römischer Jurist 8) für die regulae juris dahin angibt: regula est, quae rem, quae est, breviter enarrat; non ut ex regula jus sumatur, sed ex jure, quod est, regula fiat. Auch verdient dabei wohl beachtet zu werden, daß diese Rechtssätze den Zeitgenossen, die die concreten Rechtsverhältnisse täglich vor Augen haben, in einem ganz andern Lichte erscheinen, als dem späteren Beobachter; jenen genügt eine unvollkommne Skizze, sie reproducirt in ihnen das vollständige Bild, während dieser eben nichts darin erblickt, als rohe Umrisse. Man könnte sie auch Notizen nennen, die sich ein Volk über die Erweiterung seines Rechtsbewußtseins macht. So dürftig sie sind, so unver- ständlich für jeden Dritten, der die Voraussetzung ihres Ver-
7) Auch hier verweise ich wieder auf die Analogie der Sprache. Unrich- tige grammatikalische Regeln schaden dem Sprachgebrauch des Lebens zu den Zeiten am wenigsten, wo die Fertigkeit grammatikalischer Abstractionen am wenigsten ausgebildet ist.
8) Paulus in der L. 1 de R. l. (50. 17).
Einleitung — die Methode.
Nachdem wir jetzt dies Reſultat gefunden haben, daß zwi- ſchen dem objektiven Recht, wie es thatſächlich lebt und leibt, und ſeiner Faſſung in Form von Rechtsſätzen (wir können ſie auch die Theorie des Rechts nennen) keine vollſtändige Congruenz beſteht, wollen wir eine Frage beantworten, die ſich gewiß man- chem Leſer aufdrängt. Nämlich man könnte meinen, daß jene mangelhaften Formulirungen eine nachtheilige Rückwirkung auf das Recht ſelbſt ausüben müßten. Wie verhält es ſich damit? Man muß unterſcheiden. Gerade zu den Zeiten, wo ſie am un- vollkommenſten ſind, weil das Formulirungsvermögen auf der niedrigſten Stufe ſteht. droht dieſe Gefahr am wenigſten. Wo nämlich die Anwendung derſelben zu einem Widerſpruch mit dem Recht, wie es objektiv in der Wirklichkeit und ſubjektiv in dem Gefühl und der Anſchauung lebt, führen würde, tritt letztere rectificirend dazwiſchen. 7) Zwiſchen den Rechtsſätzen und dem wirklichen Recht beſteht hier alſo das Verhältniß, welches ein römiſcher Juriſt 8) für die regulae juris dahin angibt: regula est, quae rem, quae est, breviter enarrat; non ut ex regula jus sumatur, sed ex jure, quod est, regula fiat. Auch verdient dabei wohl beachtet zu werden, daß dieſe Rechtsſätze den Zeitgenoſſen, die die concreten Rechtsverhältniſſe täglich vor Augen haben, in einem ganz andern Lichte erſcheinen, als dem ſpäteren Beobachter; jenen genügt eine unvollkommne Skizze, ſie reproducirt in ihnen das vollſtändige Bild, während dieſer eben nichts darin erblickt, als rohe Umriſſe. Man könnte ſie auch Notizen nennen, die ſich ein Volk über die Erweiterung ſeines Rechtsbewußtſeins macht. So dürftig ſie ſind, ſo unver- ſtändlich für jeden Dritten, der die Vorausſetzung ihres Ver-
7) Auch hier verweiſe ich wieder auf die Analogie der Sprache. Unrich- tige grammatikaliſche Regeln ſchaden dem Sprachgebrauch des Lebens zu den Zeiten am wenigſten, wo die Fertigkeit grammatikaliſcher Abſtractionen am wenigſten ausgebildet iſt.
8) Paulus in der L. 1 de R. l. (50. 17).
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Einleitung — die Methode.
Nachdem wir jetzt dies Reſultat gefunden haben, daß zwi-
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auch die Theorie des Rechts nennen) keine vollſtändige Congruenz
beſteht, wollen wir eine Frage beantworten, die ſich gewiß man-
chem Leſer aufdrängt. Nämlich man könnte meinen, daß jene
mangelhaften Formulirungen eine nachtheilige Rückwirkung auf
das Recht ſelbſt ausüben müßten. Wie verhält es ſich damit?
Man muß unterſcheiden. Gerade zu den Zeiten, wo ſie am un-
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nämlich die Anwendung derſelben zu einem Widerſpruch mit dem
Recht, wie es objektiv in der Wirklichkeit und ſubjektiv in dem
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wirklichen Recht beſteht hier alſo das Verhältniß, welches ein
römiſcher Juriſt 8) für die regulae juris dahin angibt: regula
est, quae rem, quae est, breviter enarrat; non ut ex
regula jus sumatur, sed ex jure, quod est, regula
fiat. Auch verdient dabei wohl beachtet zu werden, daß dieſe
Rechtsſätze den Zeitgenoſſen, die die concreten Rechtsverhältniſſe
täglich vor Augen haben, in einem ganz andern Lichte erſcheinen,
als dem ſpäteren Beobachter; jenen genügt eine unvollkommne
Skizze, ſie reproducirt in ihnen das vollſtändige Bild, während
dieſer eben nichts darin erblickt, als rohe Umriſſe. Man könnte
ſie auch Notizen nennen, die ſich ein Volk über die Erweiterung
ſeines Rechtsbewußtſeins macht. So dürftig ſie ſind, ſo unver-
ſtändlich für jeden Dritten, der die Vorausſetzung ihres Ver-
7) Auch hier verweiſe ich wieder auf die Analogie der Sprache. Unrich-
tige grammatikaliſche Regeln ſchaden dem Sprachgebrauch des Lebens zu den
Zeiten am wenigſten, wo die Fertigkeit grammatikaliſcher Abſtractionen am
wenigſten ausgebildet iſt.
8) Paulus in der L. 1 de R. l. (50. 17).
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/38>, abgerufen am 25.07.2024.
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