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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Uebergang zum spezifisch römischen Recht.
hemmende Verbote zum Groll gegen den Staat veranlaßt, ihre
Macht über die Gemüther zum Nachtheil des Staats benutzt
hätten; die Macht, die sie besaßen, gehörte ihm, weil er, wenn
er sie überhaupt in der Stadt duldete, sie ohne rechtliche Zurück-
setzung der ihm dienstbaren politisch-religiösen Hierarchie ein-
verleibte.

Wenden wir uns jetzt den Einrichtungen, Formen, Dogma
u. s. w. der römischen Religion zu, soweit sie eine prakti-
sche Beziehung zum Staat haben, so gibt es in der ganzen
römischen Welt schwerlich eine widerwärtigere Erscheinung,
als sie uns darbieten -- die Traditionen einer von tief reli-
giösem Gefühl beseelten Vorzeit versteinert zu bloßen Formen
und unter den Händen eines sie für seine Zwecke gestaltenden
Verstandes. Nicht darin liegt das Widerwärtige, daß jener
Geist, aus dem sie hervorgegangen, aus ihnen gewichen und
sie selbst dennoch fortdauern -- diese Erscheinung wiederholt
sich täglich -- sondern daß der geist- und gemüthlose Verstand
sich ihrer bemächtigt, mit der Absicht zwar einerseits sie zu er-
halten, 247) andererseits aber doch sie seinen Zwecken anzupas-

247) Es wäre eine höchst interessante Aufgabe, die sich hier aber natür-
lich nicht behandeln läßt, die Aehnlichkeiten zwischen der römischen Jurispru-
denz und der Behandlung der Religion nachzuweisen. Dieselben Erscheinun-
gen, die jene uns darbietet (wie z. B. der Formalismus, die Consequenz, die
Fictionen, die Scheingeschäfte u. s. w. selbst manche materielle Grundsätze)
wiederholen sich hier, aber mit gerade entgegengesetzter Wirkung -- was dem
Recht angemessen war und die Ausbildung desselben im höchsten Grade beför-
derte, war für die Religion in demselben Grade nachtheilig und entfremdete
sie immer mehr ihrem wahren Wesen. Juristische Fragen theologisch behan-
delt zu sehn ist noch erträglicher, als theologische Fragen juristisch. Rubino
a. a. O. S. 219 Not. 2 macht darauf aufmerksam, daß "charakteristisch ge-
nug für die römische Denkweise die justi atque injusti seientia auch die Re-
ligion umfaßte." Dem Juristen ist die Legaldefinition der Jurisprudenz als
einer rerum divinarum atque humanarum notitia, justi atque injusti
scientia (L. 10 §. 2 de just. et jure)
bekannt, und ebenso daß die Lehre
von den sacra zum jus publicum gezählt wird (L. 1 §. 2 ibid.).

Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
hemmende Verbote zum Groll gegen den Staat veranlaßt, ihre
Macht über die Gemüther zum Nachtheil des Staats benutzt
hätten; die Macht, die ſie beſaßen, gehörte ihm, weil er, wenn
er ſie überhaupt in der Stadt duldete, ſie ohne rechtliche Zurück-
ſetzung der ihm dienſtbaren politiſch-religiöſen Hierarchie ein-
verleibte.

Wenden wir uns jetzt den Einrichtungen, Formen, Dogma
u. ſ. w. der römiſchen Religion zu, ſoweit ſie eine prakti-
ſche Beziehung zum Staat haben, ſo gibt es in der ganzen
römiſchen Welt ſchwerlich eine widerwärtigere Erſcheinung,
als ſie uns darbieten — die Traditionen einer von tief reli-
giöſem Gefühl beſeelten Vorzeit verſteinert zu bloßen Formen
und unter den Händen eines ſie für ſeine Zwecke geſtaltenden
Verſtandes. Nicht darin liegt das Widerwärtige, daß jener
Geiſt, aus dem ſie hervorgegangen, aus ihnen gewichen und
ſie ſelbſt dennoch fortdauern — dieſe Erſcheinung wiederholt
ſich täglich — ſondern daß der geiſt- und gemüthloſe Verſtand
ſich ihrer bemächtigt, mit der Abſicht zwar einerſeits ſie zu er-
halten, 247) andererſeits aber doch ſie ſeinen Zwecken anzupaſ-

247) Es wäre eine höchſt intereſſante Aufgabe, die ſich hier aber natür-
lich nicht behandeln läßt, die Aehnlichkeiten zwiſchen der römiſchen Jurispru-
denz und der Behandlung der Religion nachzuweiſen. Dieſelben Erſcheinun-
gen, die jene uns darbietet (wie z. B. der Formalismus, die Conſequenz, die
Fictionen, die Scheingeſchäfte u. ſ. w. ſelbſt manche materielle Grundſätze)
wiederholen ſich hier, aber mit gerade entgegengeſetzter Wirkung — was dem
Recht angemeſſen war und die Ausbildung deſſelben im höchſten Grade beför-
derte, war für die Religion in demſelben Grade nachtheilig und entfremdete
ſie immer mehr ihrem wahren Weſen. Juriſtiſche Fragen theologiſch behan-
delt zu ſehn iſt noch erträglicher, als theologiſche Fragen juriſtiſch. Rubino
a. a. O. S. 219 Not. 2 macht darauf aufmerkſam, daß „charakteriſtiſch ge-
nug für die römiſche Denkweiſe die justi atque injusti seientia auch die Re-
ligion umfaßte.“ Dem Juriſten iſt die Legaldefinition der Jurisprudenz als
einer rerum divinarum atque humanarum notitia, justi atque injusti
scientia (L. 10 §. 2 de just. et jure)
bekannt, und ebenſo daß die Lehre
von den sacra zum jus publicum gezählt wird (L. 1 §. 2 ibid.).
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[324/0342] Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht. hemmende Verbote zum Groll gegen den Staat veranlaßt, ihre Macht über die Gemüther zum Nachtheil des Staats benutzt hätten; die Macht, die ſie beſaßen, gehörte ihm, weil er, wenn er ſie überhaupt in der Stadt duldete, ſie ohne rechtliche Zurück- ſetzung der ihm dienſtbaren politiſch-religiöſen Hierarchie ein- verleibte. Wenden wir uns jetzt den Einrichtungen, Formen, Dogma u. ſ. w. der römiſchen Religion zu, ſoweit ſie eine prakti- ſche Beziehung zum Staat haben, ſo gibt es in der ganzen römiſchen Welt ſchwerlich eine widerwärtigere Erſcheinung, als ſie uns darbieten — die Traditionen einer von tief reli- giöſem Gefühl beſeelten Vorzeit verſteinert zu bloßen Formen und unter den Händen eines ſie für ſeine Zwecke geſtaltenden Verſtandes. Nicht darin liegt das Widerwärtige, daß jener Geiſt, aus dem ſie hervorgegangen, aus ihnen gewichen und ſie ſelbſt dennoch fortdauern — dieſe Erſcheinung wiederholt ſich täglich — ſondern daß der geiſt- und gemüthloſe Verſtand ſich ihrer bemächtigt, mit der Abſicht zwar einerſeits ſie zu er- halten, 247) andererſeits aber doch ſie ſeinen Zwecken anzupaſ- 247) Es wäre eine höchſt intereſſante Aufgabe, die ſich hier aber natür- lich nicht behandeln läßt, die Aehnlichkeiten zwiſchen der römiſchen Jurispru- denz und der Behandlung der Religion nachzuweiſen. Dieſelben Erſcheinun- gen, die jene uns darbietet (wie z. B. der Formalismus, die Conſequenz, die Fictionen, die Scheingeſchäfte u. ſ. w. ſelbſt manche materielle Grundſätze) wiederholen ſich hier, aber mit gerade entgegengeſetzter Wirkung — was dem Recht angemeſſen war und die Ausbildung deſſelben im höchſten Grade beför- derte, war für die Religion in demſelben Grade nachtheilig und entfremdete ſie immer mehr ihrem wahren Weſen. Juriſtiſche Fragen theologiſch behan- delt zu ſehn iſt noch erträglicher, als theologiſche Fragen juriſtiſch. Rubino a. a. O. S. 219 Not. 2 macht darauf aufmerkſam, daß „charakteriſtiſch ge- nug für die römiſche Denkweiſe die justi atque injusti seientia auch die Re- ligion umfaßte.“ Dem Juriſten iſt die Legaldefinition der Jurisprudenz als einer rerum divinarum atque humanarum notitia, justi atque injusti scientia (L. 10 §. 2 de just. et jure) bekannt, und ebenſo daß die Lehre von den sacra zum jus publicum gezählt wird (L. 1 §. 2 ibid.).

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/342>, abgerufen am 25.11.2024.