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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Uebergang zum spezifisch römischen Recht.
Conflikt mit dem Willen des Volks machtlos. Von ihren Straf-
erkenntnissen konnte ans Volk appellirt werden, und umgekehrt
kam es später vor, daß das Volk ihre freisprechenden Urtheile
kassirte, ja sogar schon im fünften Jahrhunderte der Stadt, daß
das Volk den Pontifex maximus zwang, eine dienstliche Hand-
lung vorzunehmen, die er aus Gründen des geistlichen Rechts
für unstatthaft erklärt hatte. 244)

Wie groß oder wie klein nun immerhin der Einfluß sein
mochte, der diesen Personen zustand: vergessen wir nicht, daß
alle jene Aemter als Staatsämter betrachtet und verwaltet
wurden. Sie fielen Personen zu, die bisher ganz dem Staat
gelebt hatten und mit der Uebernahme jener Aemter weder ihre
politische Laufbahn als geschlossen, die Gunst des Volks also
fortan als überflüssig betrachteten, noch dem Interesse des
Staats irgendwie entfremdet wurden. Ein Standesinteresse
verführte sie nicht, ihre Gewalt auf Kosten des Staats zu miß-
brauchen und auszudehnen; an diesem, wie an jedem andern
Platze fühlten sie sich nur als Bürger und Römer, und die Ge-
sinnung, die sie als solche beseelte, leitete sie auch bei der Ver-
waltung ihres Amts. Oft mochte diese Gesinnung einen mög-
lichen Conflikt des geistlichen Rechts mit dem politischen In-
teresse schon im Keim ersticken; sie bestimmte ja den Geist, mit
dem man die heiligen Bücher, die Zeichen u. s. w. auffaßte,
und ein dem Staat ergebener Pontifex und Augur gab, ohne
sich einer Schlechtigkeit und der Absichtlichkeit bewußt zu sein,
ihnen die Deutung, die dem politischen Bedürfniß am meisten
entsprach. Als die Patricier noch im Alleinbesitz jener Stellen
waren, bedienten sie sich derselben im Interesse ihrer Par-
thei; 245) was bereits damals im Interesse der Parthei möglich
war, war es auch später in dem des Vaterlandes.

244) Livius IX c. 46: coactusque consensu populi Cornelius Bar-
batus Pontifex maximus praeire verba, quum more majorum negaret
nisi consulem aut imperatorem posse templum dedicare.
245) Z. B. Liv. IV c. 7. (a. 310 U.C.) ... augurum decreto perinde

Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Conflikt mit dem Willen des Volks machtlos. Von ihren Straf-
erkenntniſſen konnte ans Volk appellirt werden, und umgekehrt
kam es ſpäter vor, daß das Volk ihre freiſprechenden Urtheile
kaſſirte, ja ſogar ſchon im fünften Jahrhunderte der Stadt, daß
das Volk den Pontifex maximus zwang, eine dienſtliche Hand-
lung vorzunehmen, die er aus Gründen des geiſtlichen Rechts
für unſtatthaft erklärt hatte. 244)

Wie groß oder wie klein nun immerhin der Einfluß ſein
mochte, der dieſen Perſonen zuſtand: vergeſſen wir nicht, daß
alle jene Aemter als Staatsämter betrachtet und verwaltet
wurden. Sie fielen Perſonen zu, die bisher ganz dem Staat
gelebt hatten und mit der Uebernahme jener Aemter weder ihre
politiſche Laufbahn als geſchloſſen, die Gunſt des Volks alſo
fortan als überflüſſig betrachteten, noch dem Intereſſe des
Staats irgendwie entfremdet wurden. Ein Standesintereſſe
verführte ſie nicht, ihre Gewalt auf Koſten des Staats zu miß-
brauchen und auszudehnen; an dieſem, wie an jedem andern
Platze fühlten ſie ſich nur als Bürger und Römer, und die Ge-
ſinnung, die ſie als ſolche beſeelte, leitete ſie auch bei der Ver-
waltung ihres Amts. Oft mochte dieſe Geſinnung einen mög-
lichen Conflikt des geiſtlichen Rechts mit dem politiſchen In-
tereſſe ſchon im Keim erſticken; ſie beſtimmte ja den Geiſt, mit
dem man die heiligen Bücher, die Zeichen u. ſ. w. auffaßte,
und ein dem Staat ergebener Pontifex und Augur gab, ohne
ſich einer Schlechtigkeit und der Abſichtlichkeit bewußt zu ſein,
ihnen die Deutung, die dem politiſchen Bedürfniß am meiſten
entſprach. Als die Patricier noch im Alleinbeſitz jener Stellen
waren, bedienten ſie ſich derſelben im Intereſſe ihrer Par-
thei; 245) was bereits damals im Intereſſe der Parthei möglich
war, war es auch ſpäter in dem des Vaterlandes.

244) Livius IX c. 46: coactusque consensu populi Cornelius Bar-
batus Pontifex maximus praeire verba, quum more majorum negaret
nisi consulem aut imperatorem posse templum dedicare.
245) Z. B. Liv. IV c. 7. (a. 310 U.C.) … augurum decreto perinde
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[322/0340] Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht. Conflikt mit dem Willen des Volks machtlos. Von ihren Straf- erkenntniſſen konnte ans Volk appellirt werden, und umgekehrt kam es ſpäter vor, daß das Volk ihre freiſprechenden Urtheile kaſſirte, ja ſogar ſchon im fünften Jahrhunderte der Stadt, daß das Volk den Pontifex maximus zwang, eine dienſtliche Hand- lung vorzunehmen, die er aus Gründen des geiſtlichen Rechts für unſtatthaft erklärt hatte. 244) Wie groß oder wie klein nun immerhin der Einfluß ſein mochte, der dieſen Perſonen zuſtand: vergeſſen wir nicht, daß alle jene Aemter als Staatsämter betrachtet und verwaltet wurden. Sie fielen Perſonen zu, die bisher ganz dem Staat gelebt hatten und mit der Uebernahme jener Aemter weder ihre politiſche Laufbahn als geſchloſſen, die Gunſt des Volks alſo fortan als überflüſſig betrachteten, noch dem Intereſſe des Staats irgendwie entfremdet wurden. Ein Standesintereſſe verführte ſie nicht, ihre Gewalt auf Koſten des Staats zu miß- brauchen und auszudehnen; an dieſem, wie an jedem andern Platze fühlten ſie ſich nur als Bürger und Römer, und die Ge- ſinnung, die ſie als ſolche beſeelte, leitete ſie auch bei der Ver- waltung ihres Amts. Oft mochte dieſe Geſinnung einen mög- lichen Conflikt des geiſtlichen Rechts mit dem politiſchen In- tereſſe ſchon im Keim erſticken; ſie beſtimmte ja den Geiſt, mit dem man die heiligen Bücher, die Zeichen u. ſ. w. auffaßte, und ein dem Staat ergebener Pontifex und Augur gab, ohne ſich einer Schlechtigkeit und der Abſichtlichkeit bewußt zu ſein, ihnen die Deutung, die dem politiſchen Bedürfniß am meiſten entſprach. Als die Patricier noch im Alleinbeſitz jener Stellen waren, bedienten ſie ſich derſelben im Intereſſe ihrer Par- thei; 245) was bereits damals im Intereſſe der Parthei möglich war, war es auch ſpäter in dem des Vaterlandes. 244) Livius IX c. 46: coactusque consensu populi Cornelius Bar- batus Pontifex maximus praeire verba, quum more majorum negaret nisi consulem aut imperatorem posse templum dedicare. 245) Z. B. Liv. IV c. 7. (a. 310 U.C.) … augurum decreto perinde

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/340>, abgerufen am 22.11.2024.