Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung -- die Methode.
irgend einem Punkt dieser Ordnung zuwider handelt, uns auf-
merksam; wir werfen jene Frage auf, und mit der Frage ist auch
die Antwort, die Erkenntniß da. So verdankt vielleicht auch die
Kunde der moralischen Welt dem Zufall ihre folgenreichsten
Entdeckungen. Bei vielen Entdeckungen ist die Antwort weniger
schwierig gewesen, als die Frage, und der Wissenschaft, die vor
lauter Anworten nicht zum Fragen kam, hat oft der Zufall zu
Hülfe kommen und die rechten Fragen hinwerfen müssen.

Mühsam und langsam schleicht auf dem Gebiete des Rechts
die Erkenntniß und auch bei hoher Reife entzieht sich noch man-
ches ihrem Blicke. So groß die Virtuosität der klassischen römi-
schen Juristen war, so gab es doch auch zu ihrer Zeit in jedem
Moment Rechtssätze, die da waren, ohne von ihnen erkannt zu
sein, und die erst durch die Bemühungen ihrer Nachfolger ans
Tageslicht gebracht sind. Wenn man uns frägt: wie war dies
möglich, da sie doch, um angewandt zu werden, erkannt sein
mußten, so können wir statt aller Antwort auf die Sprachgesetze
verweisen. Dieselben werden von Tausenden täglich ange-
wandt
, die nie etwas von ihnen gehört haben; was der Er-
kenntniß gebricht, ersetzt das Gefühl, der Takt. 3)

3) Ich kann es mir nicht versagen, hier eine Bemerkung von einem
Sprachforscher, dessen Resultate ich im Laufe des Werks noch oft benutzen
werde, mitzutheilen, nämlich von Pott Etymologische Forschungen auf dem
Gebiete der Indo-Germanischen Sprachen u. s. w. Bd. 1. 1833. S. 146:
"Jene umgekehrte Kurzsichtigkeit, welche wohl entfernte Punkte, aber nicht die
ganz nahe liegenden wahrnehmen läßt, offenbart sich im geistigen Sinne am
Menschen vorzüglich rücksichtlich der Kenntniß seiner Muttersprache. Diese
bietet dem Fremden auf den ersten Blick eine Menge auffallender und hervor-
stechender Punkte dar, die der, welcher sie von Kindesbeinen an redet, eben der
Gewohnheit wegen entweder nie oder nur schwer inne wird; jener wird
schon äußerlich gezwungen darauf sein Augenmerk zu richten, während dieser
erst den Reiz des Aufmerkens durch Willenskraft hervorbringen muß. Daher
die bekannte Erscheinung, daß man sich in der Regel der Muttersprache erst
durch die Erlernung fremder Sprachen recht bewußt wird und daß es fast
schwerer ist, eine Grammatik der Muttersprache als einer

Einleitung — die Methode.
irgend einem Punkt dieſer Ordnung zuwider handelt, uns auf-
merkſam; wir werfen jene Frage auf, und mit der Frage iſt auch
die Antwort, die Erkenntniß da. So verdankt vielleicht auch die
Kunde der moraliſchen Welt dem Zufall ihre folgenreichſten
Entdeckungen. Bei vielen Entdeckungen iſt die Antwort weniger
ſchwierig geweſen, als die Frage, und der Wiſſenſchaft, die vor
lauter Anworten nicht zum Fragen kam, hat oft der Zufall zu
Hülfe kommen und die rechten Fragen hinwerfen müſſen.

Mühſam und langſam ſchleicht auf dem Gebiete des Rechts
die Erkenntniß und auch bei hoher Reife entzieht ſich noch man-
ches ihrem Blicke. So groß die Virtuoſität der klaſſiſchen römi-
ſchen Juriſten war, ſo gab es doch auch zu ihrer Zeit in jedem
Moment Rechtsſätze, die da waren, ohne von ihnen erkannt zu
ſein, und die erſt durch die Bemühungen ihrer Nachfolger ans
Tageslicht gebracht ſind. Wenn man uns frägt: wie war dies
möglich, da ſie doch, um angewandt zu werden, erkannt ſein
mußten, ſo können wir ſtatt aller Antwort auf die Sprachgeſetze
verweiſen. Dieſelben werden von Tauſenden täglich ange-
wandt
, die nie etwas von ihnen gehört haben; was der Er-
kenntniß gebricht, erſetzt das Gefühl, der Takt. 3)

3) Ich kann es mir nicht verſagen, hier eine Bemerkung von einem
Sprachforſcher, deſſen Reſultate ich im Laufe des Werks noch oft benutzen
werde, mitzutheilen, nämlich von Pott Etymologiſche Forſchungen auf dem
Gebiete der Indo-Germaniſchen Sprachen u. ſ. w. Bd. 1. 1833. S. 146:
„Jene umgekehrte Kurzſichtigkeit, welche wohl entfernte Punkte, aber nicht die
ganz nahe liegenden wahrnehmen läßt, offenbart ſich im geiſtigen Sinne am
Menſchen vorzüglich rückſichtlich der Kenntniß ſeiner Mutterſprache. Dieſe
bietet dem Fremden auf den erſten Blick eine Menge auffallender und hervor-
ſtechender Punkte dar, die der, welcher ſie von Kindesbeinen an redet, eben der
Gewohnheit wegen entweder nie oder nur ſchwer inne wird; jener wird
ſchon äußerlich gezwungen darauf ſein Augenmerk zu richten, während dieſer
erſt den Reiz des Aufmerkens durch Willenskraft hervorbringen muß. Daher
die bekannte Erſcheinung, daß man ſich in der Regel der Mutterſprache erſt
durch die Erlernung fremder Sprachen recht bewußt wird und daß es faſt
ſchwerer iſt, eine Grammatik der Mutterſprache als einer
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0034" n="16"/><fw place="top" type="header">Einleitung &#x2014; die Methode.</fw><lb/>
irgend einem Punkt die&#x017F;er Ordnung zuwider handelt, uns auf-<lb/>
merk&#x017F;am; wir werfen jene Frage auf, und mit der Frage i&#x017F;t auch<lb/>
die Antwort, die Erkenntniß da. So verdankt vielleicht auch die<lb/>
Kunde der morali&#x017F;chen Welt dem Zufall ihre folgenreich&#x017F;ten<lb/>
Entdeckungen. Bei vielen Entdeckungen i&#x017F;t die Antwort weniger<lb/>
&#x017F;chwierig gewe&#x017F;en, als die Frage, und der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, die vor<lb/>
lauter Anworten nicht zum Fragen kam, hat oft der Zufall zu<lb/>
Hülfe kommen und die rechten Fragen hinwerfen mü&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
              <p>Müh&#x017F;am und lang&#x017F;am &#x017F;chleicht auf dem Gebiete des Rechts<lb/>
die Erkenntniß und auch bei hoher Reife entzieht &#x017F;ich noch man-<lb/>
ches ihrem Blicke. So groß die Virtuo&#x017F;ität der kla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen römi-<lb/>
&#x017F;chen Juri&#x017F;ten war, &#x017F;o gab es doch auch zu ihrer Zeit in jedem<lb/>
Moment Rechts&#x017F;ätze, die da waren, ohne von ihnen erkannt zu<lb/>
&#x017F;ein, und die er&#x017F;t durch die Bemühungen ihrer Nachfolger ans<lb/>
Tageslicht gebracht &#x017F;ind. Wenn man uns frägt: wie war dies<lb/>
möglich, da &#x017F;ie doch, um angewandt zu werden, erkannt &#x017F;ein<lb/>
mußten, &#x017F;o können wir &#x017F;tatt aller Antwort auf die Sprachge&#x017F;etze<lb/>
verwei&#x017F;en. Die&#x017F;elben werden von Tau&#x017F;enden täglich <hi rendition="#g">ange-<lb/>
wandt</hi>, die nie etwas von ihnen gehört haben; was der Er-<lb/>
kenntniß gebricht, er&#x017F;etzt das Gefühl, der Takt. <note xml:id="note-0034" next="#note-0035" place="foot" n="3)">Ich kann es mir nicht ver&#x017F;agen, hier eine Bemerkung von einem<lb/>
Sprachfor&#x017F;cher, de&#x017F;&#x017F;en Re&#x017F;ultate ich im Laufe des Werks noch oft benutzen<lb/>
werde, mitzutheilen, nämlich von Pott Etymologi&#x017F;che For&#x017F;chungen auf dem<lb/>
Gebiete der Indo-Germani&#x017F;chen Sprachen u. &#x017F;. w. Bd. 1. 1833. S. 146:<lb/>
&#x201E;Jene umgekehrte Kurz&#x017F;ichtigkeit, welche wohl entfernte Punkte, aber nicht die<lb/>
ganz nahe liegenden wahrnehmen läßt, offenbart &#x017F;ich im gei&#x017F;tigen Sinne am<lb/>
Men&#x017F;chen vorzüglich rück&#x017F;ichtlich der Kenntniß &#x017F;einer Mutter&#x017F;prache. Die&#x017F;e<lb/>
bietet dem <hi rendition="#g">Fremden</hi> auf den er&#x017F;ten Blick eine Menge auffallender und hervor-<lb/>
&#x017F;techender Punkte dar, die der, welcher &#x017F;ie von Kindesbeinen an redet, eben der<lb/><hi rendition="#g">Gewohnheit wegen</hi> entweder nie oder nur &#x017F;chwer inne wird; jener wird<lb/>
&#x017F;chon äußerlich gezwungen darauf &#x017F;ein Augenmerk zu richten, während die&#x017F;er<lb/>
er&#x017F;t den Reiz des Aufmerkens durch Willenskraft hervorbringen muß. Daher<lb/>
die bekannte Er&#x017F;cheinung, daß man &#x017F;ich in der Regel der Mutter&#x017F;prache er&#x017F;t<lb/>
durch die Erlernung fremder Sprachen recht bewußt wird und <hi rendition="#g">daß es fa&#x017F;t<lb/>
&#x017F;chwerer i&#x017F;t, eine Grammatik der Mutter&#x017F;prache als einer</hi></note></p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0034] Einleitung — die Methode. irgend einem Punkt dieſer Ordnung zuwider handelt, uns auf- merkſam; wir werfen jene Frage auf, und mit der Frage iſt auch die Antwort, die Erkenntniß da. So verdankt vielleicht auch die Kunde der moraliſchen Welt dem Zufall ihre folgenreichſten Entdeckungen. Bei vielen Entdeckungen iſt die Antwort weniger ſchwierig geweſen, als die Frage, und der Wiſſenſchaft, die vor lauter Anworten nicht zum Fragen kam, hat oft der Zufall zu Hülfe kommen und die rechten Fragen hinwerfen müſſen. Mühſam und langſam ſchleicht auf dem Gebiete des Rechts die Erkenntniß und auch bei hoher Reife entzieht ſich noch man- ches ihrem Blicke. So groß die Virtuoſität der klaſſiſchen römi- ſchen Juriſten war, ſo gab es doch auch zu ihrer Zeit in jedem Moment Rechtsſätze, die da waren, ohne von ihnen erkannt zu ſein, und die erſt durch die Bemühungen ihrer Nachfolger ans Tageslicht gebracht ſind. Wenn man uns frägt: wie war dies möglich, da ſie doch, um angewandt zu werden, erkannt ſein mußten, ſo können wir ſtatt aller Antwort auf die Sprachgeſetze verweiſen. Dieſelben werden von Tauſenden täglich ange- wandt, die nie etwas von ihnen gehört haben; was der Er- kenntniß gebricht, erſetzt das Gefühl, der Takt. 3) 3) Ich kann es mir nicht verſagen, hier eine Bemerkung von einem Sprachforſcher, deſſen Reſultate ich im Laufe des Werks noch oft benutzen werde, mitzutheilen, nämlich von Pott Etymologiſche Forſchungen auf dem Gebiete der Indo-Germaniſchen Sprachen u. ſ. w. Bd. 1. 1833. S. 146: „Jene umgekehrte Kurzſichtigkeit, welche wohl entfernte Punkte, aber nicht die ganz nahe liegenden wahrnehmen läßt, offenbart ſich im geiſtigen Sinne am Menſchen vorzüglich rückſichtlich der Kenntniß ſeiner Mutterſprache. Dieſe bietet dem Fremden auf den erſten Blick eine Menge auffallender und hervor- ſtechender Punkte dar, die der, welcher ſie von Kindesbeinen an redet, eben der Gewohnheit wegen entweder nie oder nur ſchwer inne wird; jener wird ſchon äußerlich gezwungen darauf ſein Augenmerk zu richten, während dieſer erſt den Reiz des Aufmerkens durch Willenskraft hervorbringen muß. Daher die bekannte Erſcheinung, daß man ſich in der Regel der Mutterſprache erſt durch die Erlernung fremder Sprachen recht bewußt wird und daß es faſt ſchwerer iſt, eine Grammatik der Mutterſprache als einer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/34
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/34>, abgerufen am 29.11.2024.