2. Verhalten zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
einmal eingeräumt, Ehen mit ihnen eingegangen, sie zum Con- sulat zugelassen u. s. w., und ebenso hätte es, anstatt das Kö- nigthum aufzuheben, für den vertriebenen Tarquinius einen andern gewählt.
Man thut daher den Patriciern schwerlich Unrecht, wenn man annimmt, daß die Idee der religiösen Unverletzlichkeit der Verfassung, die sie so gern als Vorwand benutzten, um den Forderungen der Plebejer auszuweichen, ihre unbeschränkte Ge- walt über die Gemüther bereits verloren hatte. Uebrigens ist die Emancipation des Staats von der Religion und die schon so früh erfolgende Entkräftung des religiösen Prinzips vorzugs- weise auf Rechnung der Plebejer zu setzen; ihre politischen Be- strebungen führten jenes Resultat mit Nothwendigkeit herbei. Jede Niederlage der Patricier war zugleich eine Niederlage des religiösen Prinzips, jeder Sieg der Plebejer ein Sieg über die Idee der religiösen Unantastbarkeit des Staatsrechts. Für die römische Religiösität überhaupt ist es von unheilvollen Folgen gewesen, daß das religiöse Prinzip in der alten Verfassung ei- nen zuweit vorgeschobenen Posten bildete, eine zu sehr exponirte Stellung einnahm und daher von den politischen Partheikäm- pfen stets berührt wurde. Zu sehen, wie die Religion ihre Po- sitionen nach und nach aufgab, und ich möchte sagen, den Kür- zern zog -- das mußte auf die religiöse Gesinnung beider Par- theien überhaupt die nachtheiligste Rückwirkung äußern, es hieß, sie zu der Einsicht bringen, daß das politische Interesse in Rom stärker sei, als das religiöse. Insofern daran nun die Mission des römischen Volks sich bewährt, können wir sagen, daß die Plebejer, indem sie die Patricier mit Gewalt aus den Banden des religiösen Prinzips befreiten, etwas Großes und Hohes leisteten; sie zwangen sie Römer zu werden.
Jener Rückzug der Religion aus der Verfassung erstreckte sich nicht weiter, als das Interesse der Plebejer es erheischte,
2. Verhalten zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
einmal eingeräumt, Ehen mit ihnen eingegangen, ſie zum Con- ſulat zugelaſſen u. ſ. w., und ebenſo hätte es, anſtatt das Kö- nigthum aufzuheben, für den vertriebenen Tarquinius einen andern gewählt.
Man thut daher den Patriciern ſchwerlich Unrecht, wenn man annimmt, daß die Idee der religiöſen Unverletzlichkeit der Verfaſſung, die ſie ſo gern als Vorwand benutzten, um den Forderungen der Plebejer auszuweichen, ihre unbeſchränkte Ge- walt über die Gemüther bereits verloren hatte. Uebrigens iſt die Emancipation des Staats von der Religion und die ſchon ſo früh erfolgende Entkräftung des religiöſen Prinzips vorzugs- weiſe auf Rechnung der Plebejer zu ſetzen; ihre politiſchen Be- ſtrebungen führten jenes Reſultat mit Nothwendigkeit herbei. Jede Niederlage der Patricier war zugleich eine Niederlage des religiöſen Prinzips, jeder Sieg der Plebejer ein Sieg über die Idee der religiöſen Unantaſtbarkeit des Staatsrechts. Für die römiſche Religiöſität überhaupt iſt es von unheilvollen Folgen geweſen, daß das religiöſe Prinzip in der alten Verfaſſung ei- nen zuweit vorgeſchobenen Poſten bildete, eine zu ſehr exponirte Stellung einnahm und daher von den politiſchen Partheikäm- pfen ſtets berührt wurde. Zu ſehen, wie die Religion ihre Po- ſitionen nach und nach aufgab, und ich möchte ſagen, den Kür- zern zog — das mußte auf die religiöſe Geſinnung beider Par- theien überhaupt die nachtheiligſte Rückwirkung äußern, es hieß, ſie zu der Einſicht bringen, daß das politiſche Intereſſe in Rom ſtärker ſei, als das religiöſe. Inſofern daran nun die Miſſion des römiſchen Volks ſich bewährt, können wir ſagen, daß die Plebejer, indem ſie die Patricier mit Gewalt aus den Banden des religiöſen Prinzips befreiten, etwas Großes und Hohes leiſteten; ſie zwangen ſie Römer zu werden.
Jener Rückzug der Religion aus der Verfaſſung erſtreckte ſich nicht weiter, als das Intereſſe der Plebejer es erheiſchte,
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2. Verhalten zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
einmal eingeräumt, Ehen mit ihnen eingegangen, ſie zum Con-
ſulat zugelaſſen u. ſ. w., und ebenſo hätte es, anſtatt das Kö-
nigthum aufzuheben, für den vertriebenen Tarquinius einen
andern gewählt.
Man thut daher den Patriciern ſchwerlich Unrecht, wenn
man annimmt, daß die Idee der religiöſen Unverletzlichkeit der
Verfaſſung, die ſie ſo gern als Vorwand benutzten, um den
Forderungen der Plebejer auszuweichen, ihre unbeſchränkte Ge-
walt über die Gemüther bereits verloren hatte. Uebrigens iſt
die Emancipation des Staats von der Religion und die ſchon
ſo früh erfolgende Entkräftung des religiöſen Prinzips vorzugs-
weiſe auf Rechnung der Plebejer zu ſetzen; ihre politiſchen Be-
ſtrebungen führten jenes Reſultat mit Nothwendigkeit herbei.
Jede Niederlage der Patricier war zugleich eine Niederlage des
religiöſen Prinzips, jeder Sieg der Plebejer ein Sieg über die
Idee der religiöſen Unantaſtbarkeit des Staatsrechts. Für die
römiſche Religiöſität überhaupt iſt es von unheilvollen Folgen
geweſen, daß das religiöſe Prinzip in der alten Verfaſſung ei-
nen zuweit vorgeſchobenen Poſten bildete, eine zu ſehr exponirte
Stellung einnahm und daher von den politiſchen Partheikäm-
pfen ſtets berührt wurde. Zu ſehen, wie die Religion ihre Po-
ſitionen nach und nach aufgab, und ich möchte ſagen, den Kür-
zern zog — das mußte auf die religiöſe Geſinnung beider Par-
theien überhaupt die nachtheiligſte Rückwirkung äußern, es
hieß, ſie zu der Einſicht bringen, daß das politiſche Intereſſe
in Rom ſtärker ſei, als das religiöſe. Inſofern daran nun die
Miſſion des römiſchen Volks ſich bewährt, können wir ſagen,
daß die Plebejer, indem ſie die Patricier mit Gewalt aus den
Banden des religiöſen Prinzips befreiten, etwas Großes und
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/337>, abgerufen am 26.07.2024.
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