möglich, eine anatomische und eine physiologische; jene hat die Bestandtheile desselben und ihr Ineinandergreifen, also seine Structur, diese die Functionen desselben zum Gegenstand. Wir wollen nun das Recht diesen beiden Betrachtungsweisen unterwerfen und zwar wenden wir uns in diesem Paragraphen zuerst der Structur desselben zu.
Wie jeder Organismus zusammengesetzt ist aus verschie- denen Theilen, so auch der des Rechts. Je edler aber und zarter diese Theile organisirt sind, je weniger sie also auf der Ober- fläche liegen, desto später kommen sie dem Menschen zum Be- wußtsein, und dies gilt auch vom Recht. Bei jedem Volke hat die Kunde von der Organisation des Rechts, vom Aeußerlichen immer weiter zum Innerlichen aufsteigend, eine lange Stufen- leiter zurücklegen müssen. Die Frucht dieser auf die Erkenntniß des Rechts gerichteten Thätigkeit ist das Aussprechen des Er- kannten, ich nenne es das Formuliren des Rechts. Es ge- schieht theils aus dem Volke heraus, indem die thatsächlich beach- teten Normen in Form von Rechtssprüchwörtern ausgedrückt werden, theils durch den Gesetzgeber, indem er bestehende Ge- wohnheitsrechte anerkennt oder neue Normen, die ihm als Recht erscheinen, aufstellt, theils endlich durch Doctrin und Praxis, in- dem sie sich geltender Rechtssätze oder ihrer Consequenzen bewußt werden. Alle diese Beiträge sind Versuche, das Recht ins Bewußt- sein zu bringen, und für alle diese Versuche gilt jener Satz, daß die Erkenntniß mit dem Aeußerlichen beginnend erst allmählig zum Innerlichen aufsteigt. Dies wollen wir nun im folgenden ausführen und, indem wir dem menschlichen Geist in dieser sei- ner Arbeit folgen, die Stufenleiter in der Organisation des Rechts selbst kennen lernen.
Das erste, das er erblickt, sind die äußeren, praktischen Spitzen des Rechts, die Theile, deren Thätigkeit ihm sofort in die Augen springen muß, nämlich die Rechtssätze. Er sieht, daß etwas geschieht und sich stets wiederholt, er fühlt, daß es geschehen muß, und faßt dies Müssen in Worte. So entstehen
Einleitung — die Methode.
möglich, eine anatomiſche und eine phyſiologiſche; jene hat die Beſtandtheile deſſelben und ihr Ineinandergreifen, alſo ſeine Structur, dieſe die Functionen deſſelben zum Gegenſtand. Wir wollen nun das Recht dieſen beiden Betrachtungsweiſen unterwerfen und zwar wenden wir uns in dieſem Paragraphen zuerſt der Structur deſſelben zu.
Wie jeder Organismus zuſammengeſetzt iſt aus verſchie- denen Theilen, ſo auch der des Rechts. Je edler aber und zarter dieſe Theile organiſirt ſind, je weniger ſie alſo auf der Ober- fläche liegen, deſto ſpäter kommen ſie dem Menſchen zum Be- wußtſein, und dies gilt auch vom Recht. Bei jedem Volke hat die Kunde von der Organiſation des Rechts, vom Aeußerlichen immer weiter zum Innerlichen aufſteigend, eine lange Stufen- leiter zurücklegen müſſen. Die Frucht dieſer auf die Erkenntniß des Rechts gerichteten Thätigkeit iſt das Ausſprechen des Er- kannten, ich nenne es das Formuliren des Rechts. Es ge- ſchieht theils aus dem Volke heraus, indem die thatſächlich beach- teten Normen in Form von Rechtsſprüchwörtern ausgedrückt werden, theils durch den Geſetzgeber, indem er beſtehende Ge- wohnheitsrechte anerkennt oder neue Normen, die ihm als Recht erſcheinen, aufſtellt, theils endlich durch Doctrin und Praxis, in- dem ſie ſich geltender Rechtsſätze oder ihrer Conſequenzen bewußt werden. Alle dieſe Beiträge ſind Verſuche, das Recht ins Bewußt- ſein zu bringen, und für alle dieſe Verſuche gilt jener Satz, daß die Erkenntniß mit dem Aeußerlichen beginnend erſt allmählig zum Innerlichen aufſteigt. Dies wollen wir nun im folgenden ausführen und, indem wir dem menſchlichen Geiſt in dieſer ſei- ner Arbeit folgen, die Stufenleiter in der Organiſation des Rechts ſelbſt kennen lernen.
Das erſte, das er erblickt, ſind die äußeren, praktiſchen Spitzen des Rechts, die Theile, deren Thätigkeit ihm ſofort in die Augen ſpringen muß, nämlich die Rechtsſätze. Er ſieht, daß etwas geſchieht und ſich ſtets wiederholt, er fühlt, daß es geſchehen muß, und faßt dies Müſſen in Worte. So entſtehen
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Einleitung — die Methode.
möglich, eine anatomiſche und eine phyſiologiſche; jene
hat die Beſtandtheile deſſelben und ihr Ineinandergreifen, alſo
ſeine Structur, dieſe die Functionen deſſelben zum Gegenſtand.
Wir wollen nun das Recht dieſen beiden Betrachtungsweiſen
unterwerfen und zwar wenden wir uns in dieſem Paragraphen
zuerſt der Structur deſſelben zu.
Wie jeder Organismus zuſammengeſetzt iſt aus verſchie-
denen Theilen, ſo auch der des Rechts. Je edler aber und zarter
dieſe Theile organiſirt ſind, je weniger ſie alſo auf der Ober-
fläche liegen, deſto ſpäter kommen ſie dem Menſchen zum Be-
wußtſein, und dies gilt auch vom Recht. Bei jedem Volke hat
die Kunde von der Organiſation des Rechts, vom Aeußerlichen
immer weiter zum Innerlichen aufſteigend, eine lange Stufen-
leiter zurücklegen müſſen. Die Frucht dieſer auf die Erkenntniß
des Rechts gerichteten Thätigkeit iſt das Ausſprechen des Er-
kannten, ich nenne es das Formuliren des Rechts. Es ge-
ſchieht theils aus dem Volke heraus, indem die thatſächlich beach-
teten Normen in Form von Rechtsſprüchwörtern ausgedrückt
werden, theils durch den Geſetzgeber, indem er beſtehende Ge-
wohnheitsrechte anerkennt oder neue Normen, die ihm als Recht
erſcheinen, aufſtellt, theils endlich durch Doctrin und Praxis, in-
dem ſie ſich geltender Rechtsſätze oder ihrer Conſequenzen bewußt
werden. Alle dieſe Beiträge ſind Verſuche, das Recht ins Bewußt-
ſein zu bringen, und für alle dieſe Verſuche gilt jener Satz, daß
die Erkenntniß mit dem Aeußerlichen beginnend erſt allmählig
zum Innerlichen aufſteigt. Dies wollen wir nun im folgenden
ausführen und, indem wir dem menſchlichen Geiſt in dieſer ſei-
ner Arbeit folgen, die Stufenleiter in der Organiſation des
Rechts ſelbſt kennen lernen.
Das erſte, das er erblickt, ſind die äußeren, praktiſchen
Spitzen des Rechts, die Theile, deren Thätigkeit ihm ſofort in
die Augen ſpringen muß, nämlich die Rechtsſätze. Er ſieht,
daß etwas geſchieht und ſich ſtets wiederholt, er fühlt, daß es
geſchehen muß, und faßt dies Müſſen in Worte. So entſtehen
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/32>, abgerufen am 05.07.2024.
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