Erstes Buch -- Uebergang zum spezifisch römischen Recht.
Tugenden, die sich an ihr bethätigen, läßt sich als die Objekti- vität, als der Organismus der nationalen Selbstsucht be- zeichnen.
Dieser Ausdruck bezeichnet vielleicht am kürzesten die Art und Weise, in der sich diese Selbstsucht bethätigt. Die römi- schen Institutionen, Tugenden u. s. w. ordnen sich zu einem Organismus zusammen, der durch den Gedanken der Selbst- sucht getrieben wird. Diese Triebkraft aber offenbart sich nur in der Structur und Thätigkeit des Ganzen, nicht der ein- zelnen Theile; letztere werden nicht selbständig durch das Motiv der Selbstsucht, sondern durch das Bedürfniß des Gesammt- organismus bestimmt, und gerade dadurch, daß sie den unmittel- baren Einflüssen der Selbstsucht nicht ausgesetzt sind, werden sie um so geeignetere Werkzeuge derselben. Die Virtuosität der römischen Selbstsucht bewährt sich daran, daß sie stets den Gesammtzusammenhang vor Augen hat und nie auf Kosten desselben eine momentane Befriedigung erstrebt.
Machen wir dies durch Beispiele klar. Die kleinliche, kurz- sichtige Selbstsucht hat nur den einzelnen Vortheil im Auge, sie verfolgt ihn nöthigenfalls auf Kosten des Rechts, der Ehre, des Vaterlandes, kurz in einer Weise, die, wenn sie allgemein wäre, die zweckwidrigste von der Welt wäre. Der Römer hin- gegen weiß, daß sein individuelles Wohl durch das des Staats bedingt ist, seine Selbstsucht umspannt also zugleich den Staat. Er weiß, daß strenge Befolgung und Handhabung der Gesetze dem allgemeinen und folglich auch seinem eignen Interesse ent- spricht. Er weiß, daß Vortheile, die durch Ehrlosigkeit, Feig- heit u. s. w. erkauft werden, bloß scheinbare sind, daß die Selbst- sucht nur in Verbindung mit der Ehre, Tapferkeit, Rechtlich- keit u. s. w. dauerhafte Resultate erringen kann. Dies Wissen ist aber zugleich ein Sollen und Wollen, d. h. das nationale Pflichtgefühl gebietet dem Römer eine solche Handlungsweise, und die Energie des Volks bewährt sich daran, daß es diesem Pflichten-Codex der nationalen Selbstsucht blindlings nachlebt.
Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Tugenden, die ſich an ihr bethätigen, läßt ſich als die Objekti- vität, als der Organismus der nationalen Selbſtſucht be- zeichnen.
Dieſer Ausdruck bezeichnet vielleicht am kürzeſten die Art und Weiſe, in der ſich dieſe Selbſtſucht bethätigt. Die römi- ſchen Inſtitutionen, Tugenden u. ſ. w. ordnen ſich zu einem Organismus zuſammen, der durch den Gedanken der Selbſt- ſucht getrieben wird. Dieſe Triebkraft aber offenbart ſich nur in der Structur und Thätigkeit des Ganzen, nicht der ein- zelnen Theile; letztere werden nicht ſelbſtändig durch das Motiv der Selbſtſucht, ſondern durch das Bedürfniß des Geſammt- organismus beſtimmt, und gerade dadurch, daß ſie den unmittel- baren Einflüſſen der Selbſtſucht nicht ausgeſetzt ſind, werden ſie um ſo geeignetere Werkzeuge derſelben. Die Virtuoſität der römiſchen Selbſtſucht bewährt ſich daran, daß ſie ſtets den Geſammtzuſammenhang vor Augen hat und nie auf Koſten deſſelben eine momentane Befriedigung erſtrebt.
Machen wir dies durch Beiſpiele klar. Die kleinliche, kurz- ſichtige Selbſtſucht hat nur den einzelnen Vortheil im Auge, ſie verfolgt ihn nöthigenfalls auf Koſten des Rechts, der Ehre, des Vaterlandes, kurz in einer Weiſe, die, wenn ſie allgemein wäre, die zweckwidrigſte von der Welt wäre. Der Römer hin- gegen weiß, daß ſein individuelles Wohl durch das des Staats bedingt iſt, ſeine Selbſtſucht umſpannt alſo zugleich den Staat. Er weiß, daß ſtrenge Befolgung und Handhabung der Geſetze dem allgemeinen und folglich auch ſeinem eignen Intereſſe ent- ſpricht. Er weiß, daß Vortheile, die durch Ehrloſigkeit, Feig- heit u. ſ. w. erkauft werden, bloß ſcheinbare ſind, daß die Selbſt- ſucht nur in Verbindung mit der Ehre, Tapferkeit, Rechtlich- keit u. ſ. w. dauerhafte Reſultate erringen kann. Dies Wiſſen iſt aber zugleich ein Sollen und Wollen, d. h. das nationale Pflichtgefühl gebietet dem Römer eine ſolche Handlungsweiſe, und die Energie des Volks bewährt ſich daran, daß es dieſem Pflichten-Codex der nationalen Selbſtſucht blindlings nachlebt.
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Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
Tugenden, die ſich an ihr bethätigen, läßt ſich als die Objekti-
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zeichnen.
Dieſer Ausdruck bezeichnet vielleicht am kürzeſten die Art
und Weiſe, in der ſich dieſe Selbſtſucht bethätigt. Die römi-
ſchen Inſtitutionen, Tugenden u. ſ. w. ordnen ſich zu einem
Organismus zuſammen, der durch den Gedanken der Selbſt-
ſucht getrieben wird. Dieſe Triebkraft aber offenbart ſich nur
in der Structur und Thätigkeit des Ganzen, nicht der ein-
zelnen Theile; letztere werden nicht ſelbſtändig durch das Motiv
der Selbſtſucht, ſondern durch das Bedürfniß des Geſammt-
organismus beſtimmt, und gerade dadurch, daß ſie den unmittel-
baren Einflüſſen der Selbſtſucht nicht ausgeſetzt ſind, werden ſie
um ſo geeignetere Werkzeuge derſelben. Die Virtuoſität der
römiſchen Selbſtſucht bewährt ſich daran, daß ſie ſtets den
Geſammtzuſammenhang vor Augen hat und nie auf Koſten
deſſelben eine momentane Befriedigung erſtrebt.
Machen wir dies durch Beiſpiele klar. Die kleinliche, kurz-
ſichtige Selbſtſucht hat nur den einzelnen Vortheil im Auge,
ſie verfolgt ihn nöthigenfalls auf Koſten des Rechts, der Ehre,
des Vaterlandes, kurz in einer Weiſe, die, wenn ſie allgemein
wäre, die zweckwidrigſte von der Welt wäre. Der Römer hin-
gegen weiß, daß ſein individuelles Wohl durch das des Staats
bedingt iſt, ſeine Selbſtſucht umſpannt alſo zugleich den Staat.
Er weiß, daß ſtrenge Befolgung und Handhabung der Geſetze
dem allgemeinen und folglich auch ſeinem eignen Intereſſe ent-
ſpricht. Er weiß, daß Vortheile, die durch Ehrloſigkeit, Feig-
heit u. ſ. w. erkauft werden, bloß ſcheinbare ſind, daß die Selbſt-
ſucht nur in Verbindung mit der Ehre, Tapferkeit, Rechtlich-
keit u. ſ. w. dauerhafte Reſultate erringen kann. Dies Wiſſen
iſt aber zugleich ein Sollen und Wollen, d. h. das nationale
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und die Energie des Volks bewährt ſich daran, daß es dieſem
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/316>, abgerufen am 05.07.2024.
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