Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
chen, 197) und die Menschen flohen seine verpestete Nähe,
wenn nicht Jemand es für ein gutes Werk hielt, ihn aus der
Welt zu schaffen, was jedem frei stand. 198) Auf keinen Fall
aber durfte er so ungesühnt unter den Seinen bleiben, die Güter
der menschlichen Gemeinschaft und unter ihnen vor allem die
Symbole der Reinheit, Feuer und Wasser, konnte man nicht
mit ihm theilen, ohne sie zu verunehren, den Verächter der Göt-
ter nicht unter sich dulden, ohne selbst einen Antheil der Schuld
auf sich zu laden. Denn nach einer im Alterthum sehr verbrei-
teten Ansicht droht bei jedem Verbrechen die Gefahr, daß der
Zorn der Götter sich nicht auf das Haupt des Schuldigen be-
schränke, sondern sich auch gegen das Gemeinwesen wende,
dessen Mitglied er war. 199) Die Römer aber waren in religiösen
Dingen bekanntlich sehr ängstlich, und religiöse Reinheit und
Reinigung des Einzelnen wie des Volks lag ihnen sehr am
Herzen. 200) Daraus erklärt es sich denn, daß, wenn der Ver-

197) Festus sub voc. sacer .... neque fas est, eum immolari (lies
immolare).
198) Man hat, weil man sich in die alte Zeit nicht hinein zu versetzen
vermochte, dies bestritten oder, was dasselbe ist, es dadurch beschränkt, daß
der Verbrecher erst durch Urtheil habe für sacer erklärt werden müssen. Es
ist hier nicht der Ort zu einer eingehenden Polemik; aber die Stelle von
Festus, sacer mons, die dieser Ansicht mit den Worten: homo sacer est,
quem populus judicavit ob maleficium
eine scheinbare Unterstützung
gewährt, widerlegt sie zugleich mit den Worten: nam lege tribunitia prima
cavetur: si quis eum, qui eo plebiscito sacer sit
[d. h. also nach der juri-
stischen Redeweise der Römer: unmittelbar, durch die That selbst, ipso jure,
wie der technische Ausdruck lautete,] occiderit, parricida ne sit. Jene
Worte: quem populus judicavit sind zu übersetzen: der der Volksjustiz ver-
fallen war, den das Volk d. i. die Masse richtete.
199) Darum pflegten Schwörende, wenn sie für den Fall der Eid-
brüchigkeit die Strafe des Himmels auf sich herabbeschworen, einen Vorbe-
halt zu Gunsten des Gemeinwesens hinzuzufügen Festus sub voce lapidem
... "si sciens fallo, tum me Diespiter salva urbe arceque bonis
ejiciat etc.
200) Ich erinnere an die censualis lustratio des Volks, die Reinigung
der Kinder, (Fest. sub voc. lustrici) der Familie des Verstorbenen (Fest.

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
chen, 197) und die Menſchen flohen ſeine verpeſtete Nähe,
wenn nicht Jemand es für ein gutes Werk hielt, ihn aus der
Welt zu ſchaffen, was jedem frei ſtand. 198) Auf keinen Fall
aber durfte er ſo ungeſühnt unter den Seinen bleiben, die Güter
der menſchlichen Gemeinſchaft und unter ihnen vor allem die
Symbole der Reinheit, Feuer und Waſſer, konnte man nicht
mit ihm theilen, ohne ſie zu verunehren, den Verächter der Göt-
ter nicht unter ſich dulden, ohne ſelbſt einen Antheil der Schuld
auf ſich zu laden. Denn nach einer im Alterthum ſehr verbrei-
teten Anſicht droht bei jedem Verbrechen die Gefahr, daß der
Zorn der Götter ſich nicht auf das Haupt des Schuldigen be-
ſchränke, ſondern ſich auch gegen das Gemeinweſen wende,
deſſen Mitglied er war. 199) Die Römer aber waren in religiöſen
Dingen bekanntlich ſehr ängſtlich, und religiöſe Reinheit und
Reinigung des Einzelnen wie des Volks lag ihnen ſehr am
Herzen. 200) Daraus erklärt es ſich denn, daß, wenn der Ver-

197) Festus sub voc. sacer .... neque fas est, eum immolari (lies
immolare).
198) Man hat, weil man ſich in die alte Zeit nicht hinein zu verſetzen
vermochte, dies beſtritten oder, was daſſelbe iſt, es dadurch beſchränkt, daß
der Verbrecher erſt durch Urtheil habe für sacer erklärt werden müſſen. Es
iſt hier nicht der Ort zu einer eingehenden Polemik; aber die Stelle von
Feſtus, sacer mons, die dieſer Anſicht mit den Worten: homo sacer est,
quem populus judicavit ob maleficium
eine ſcheinbare Unterſtützung
gewährt, widerlegt ſie zugleich mit den Worten: nam lege tribunitia prima
cavetur: si quis eum, qui eo plebiscito sacer sit
[d. h. alſo nach der juri-
ſtiſchen Redeweiſe der Römer: unmittelbar, durch die That ſelbſt, ipso jure,
wie der techniſche Ausdruck lautete,] occiderit, parricida ne sit. Jene
Worte: quem populus judicavit ſind zu überſetzen: der der Volksjuſtiz ver-
fallen war, den das Volk d. i. die Maſſe richtete.
199) Darum pflegten Schwörende, wenn ſie für den Fall der Eid-
brüchigkeit die Strafe des Himmels auf ſich herabbeſchworen, einen Vorbe-
halt zu Gunſten des Gemeinweſens hinzuzufügen Festus sub voce lapidem
… „si sciens fallo, tum me Diespiter salva urbe arceque bonis
ejiciat etc.
200) Ich erinnere an die censualis lustratio des Volks, die Reinigung
der Kinder, (Fest. sub voc. lustrici) der Familie des Verſtorbenen (Fest.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0292" n="274"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;tes Buch &#x2014; Ausgangspunkte des römi&#x017F;chen Rechts.</fw><lb/>
chen, <note place="foot" n="197)"><hi rendition="#aq">Festus sub voc. sacer .... neque fas est, eum immolari</hi> (lies<lb/><hi rendition="#aq">immolare</hi>).</note> und die Men&#x017F;chen flohen &#x017F;eine verpe&#x017F;tete Nähe,<lb/>
wenn nicht Jemand es für ein gutes Werk hielt, ihn aus der<lb/>
Welt zu &#x017F;chaffen, was jedem frei &#x017F;tand. <note place="foot" n="198)">Man hat, weil man &#x017F;ich in die alte Zeit nicht hinein zu ver&#x017F;etzen<lb/>
vermochte, dies be&#x017F;tritten oder, was da&#x017F;&#x017F;elbe i&#x017F;t, es dadurch be&#x017F;chränkt, daß<lb/>
der Verbrecher er&#x017F;t durch Urtheil habe für <hi rendition="#aq">sacer</hi> erklärt werden mü&#x017F;&#x017F;en. Es<lb/>
i&#x017F;t hier nicht der Ort zu einer eingehenden Polemik; aber die Stelle von<lb/>
Fe&#x017F;tus, <hi rendition="#aq">sacer mons,</hi> die die&#x017F;er An&#x017F;icht mit den Worten: <hi rendition="#aq">homo sacer est,<lb/>
quem populus <hi rendition="#g">judicavit</hi> ob maleficium</hi> eine &#x017F;cheinbare Unter&#x017F;tützung<lb/>
gewährt, widerlegt &#x017F;ie zugleich mit den Worten: <hi rendition="#aq">nam lege tribunitia prima<lb/>
cavetur: si quis eum, qui eo plebiscito sacer sit</hi> [d. h. al&#x017F;o nach der juri-<lb/>
&#x017F;ti&#x017F;chen Redewei&#x017F;e der Römer: unmittelbar, durch die That &#x017F;elb&#x017F;t, <hi rendition="#aq">ipso jure,</hi><lb/>
wie der techni&#x017F;che Ausdruck lautete,] <hi rendition="#aq">occiderit, parricida ne sit.</hi> Jene<lb/>
Worte: <hi rendition="#aq">quem populus judicavit</hi> &#x017F;ind zu über&#x017F;etzen: der der Volksju&#x017F;tiz ver-<lb/>
fallen war, den das Volk d. i. die Ma&#x017F;&#x017F;e richtete.</note> Auf keinen Fall<lb/>
aber durfte er &#x017F;o unge&#x017F;ühnt unter den Seinen bleiben, die Güter<lb/>
der men&#x017F;chlichen Gemein&#x017F;chaft und unter ihnen vor allem die<lb/>
Symbole der Reinheit, Feuer und Wa&#x017F;&#x017F;er, konnte man nicht<lb/>
mit ihm theilen, ohne &#x017F;ie zu verunehren, den Verächter der Göt-<lb/>
ter nicht unter &#x017F;ich dulden, ohne &#x017F;elb&#x017F;t einen Antheil der Schuld<lb/>
auf &#x017F;ich zu laden. Denn nach einer im Alterthum &#x017F;ehr verbrei-<lb/>
teten An&#x017F;icht droht bei jedem Verbrechen die Gefahr, daß der<lb/>
Zorn der Götter &#x017F;ich nicht auf das Haupt des Schuldigen be-<lb/>
&#x017F;chränke, &#x017F;ondern &#x017F;ich auch gegen das Gemeinwe&#x017F;en wende,<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Mitglied er war. <note place="foot" n="199)">Darum pflegten Schwörende, wenn &#x017F;ie für den Fall der Eid-<lb/>
brüchigkeit die Strafe des Himmels auf &#x017F;ich herabbe&#x017F;chworen, einen Vorbe-<lb/>
halt zu Gun&#x017F;ten des Gemeinwe&#x017F;ens hinzuzufügen <hi rendition="#aq">Festus sub voce lapidem<lb/>
&#x2026; &#x201E;si sciens fallo, tum me Diespiter <hi rendition="#g">salva urbe arceque</hi> bonis<lb/>
ejiciat etc.</hi></note> Die Römer aber waren in religiö&#x017F;en<lb/>
Dingen bekanntlich &#x017F;ehr äng&#x017F;tlich, und religiö&#x017F;e Reinheit und<lb/>
Reinigung des Einzelnen wie des Volks lag ihnen &#x017F;ehr am<lb/>
Herzen. <note xml:id="seg2pn_22_1" next="#seg2pn_22_2" place="foot" n="200)">Ich erinnere an die <hi rendition="#aq">censualis lustratio</hi> des Volks, die Reinigung<lb/>
der Kinder, <hi rendition="#aq">(Fest. sub voc. lustrici)</hi> der Familie des Ver&#x017F;torbenen <hi rendition="#aq">(Fest.</hi></note> Daraus erklärt es &#x017F;ich denn, daß, wenn der Ver-<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[274/0292] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. chen, 197) und die Menſchen flohen ſeine verpeſtete Nähe, wenn nicht Jemand es für ein gutes Werk hielt, ihn aus der Welt zu ſchaffen, was jedem frei ſtand. 198) Auf keinen Fall aber durfte er ſo ungeſühnt unter den Seinen bleiben, die Güter der menſchlichen Gemeinſchaft und unter ihnen vor allem die Symbole der Reinheit, Feuer und Waſſer, konnte man nicht mit ihm theilen, ohne ſie zu verunehren, den Verächter der Göt- ter nicht unter ſich dulden, ohne ſelbſt einen Antheil der Schuld auf ſich zu laden. Denn nach einer im Alterthum ſehr verbrei- teten Anſicht droht bei jedem Verbrechen die Gefahr, daß der Zorn der Götter ſich nicht auf das Haupt des Schuldigen be- ſchränke, ſondern ſich auch gegen das Gemeinweſen wende, deſſen Mitglied er war. 199) Die Römer aber waren in religiöſen Dingen bekanntlich ſehr ängſtlich, und religiöſe Reinheit und Reinigung des Einzelnen wie des Volks lag ihnen ſehr am Herzen. 200) Daraus erklärt es ſich denn, daß, wenn der Ver- 197) Festus sub voc. sacer .... neque fas est, eum immolari (lies immolare). 198) Man hat, weil man ſich in die alte Zeit nicht hinein zu verſetzen vermochte, dies beſtritten oder, was daſſelbe iſt, es dadurch beſchränkt, daß der Verbrecher erſt durch Urtheil habe für sacer erklärt werden müſſen. Es iſt hier nicht der Ort zu einer eingehenden Polemik; aber die Stelle von Feſtus, sacer mons, die dieſer Anſicht mit den Worten: homo sacer est, quem populus judicavit ob maleficium eine ſcheinbare Unterſtützung gewährt, widerlegt ſie zugleich mit den Worten: nam lege tribunitia prima cavetur: si quis eum, qui eo plebiscito sacer sit [d. h. alſo nach der juri- ſtiſchen Redeweiſe der Römer: unmittelbar, durch die That ſelbſt, ipso jure, wie der techniſche Ausdruck lautete,] occiderit, parricida ne sit. Jene Worte: quem populus judicavit ſind zu überſetzen: der der Volksjuſtiz ver- fallen war, den das Volk d. i. die Maſſe richtete. 199) Darum pflegten Schwörende, wenn ſie für den Fall der Eid- brüchigkeit die Strafe des Himmels auf ſich herabbeſchworen, einen Vorbe- halt zu Gunſten des Gemeinweſens hinzuzufügen Festus sub voce lapidem … „si sciens fallo, tum me Diespiter salva urbe arceque bonis ejiciat etc. 200) Ich erinnere an die censualis lustratio des Volks, die Reinigung der Kinder, (Fest. sub voc. lustrici) der Familie des Verſtorbenen (Fest.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/292
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/292>, abgerufen am 22.11.2024.