2. Der Staat -- Verhältniß zum Privatrecht. §. 15.
bei dem unsere Ausführung über das Prinzip des subjektiven Willens gewissermaßen ihre Probe zu bestehen hat, es ist dies nämlich:
4. Das Verhältniß des Staats zum Privatrecht.
Nach einer verbreiteten Ansicht, die auf den ersten Blick et- was Scheinbares hat, hätte das Privatrecht in ältester Zeit in völliger Abhängigkeit vom Staat gestanden und sich erst nach und nach daraus befreit, während umgekehrt unser Prinzip des subjektiven Willens uns zur Annahme des gerade entgegenge- setzten Extrems zwingt, nämlich der ursprünglichen völligen Unabhängigkeit des Privatrechts vom Staat. Der Schein, den jene Ansicht für sich hat, besteht in den öffentlichen Formen, in denen das Privatrecht jener Zeit auftritt, so wie in der Gegen- satzlosigkeit des gesammten Rechts, die wir in §. 19 berühren werden. Aber gerade jene Formen beweisen, daß der Staat an sich mit dem Privatrecht nichts zu thun hat, sie werden eben nur angewandt, um ihn mit demselben in eine Beziehung zu setzen, die von vornherein nicht existirt. Jene Gegensatzlosigkeit aber besteht nicht darin, daß der Staat das Privatrecht, sondern das Privatrecht den Staat dominirt d. h. daß der Staat nach pri- vatrechtlichen Prinzipien construirt ist. Es wäre gegen alle Geschichte, daß der Staat das Privatrecht aus sich sollte ge- boren haben; das Gefühl der individuellen Selbständigkeit ist das absolut erste, und erst im mühsamen, allmähligen Kampfe mit demselben gelangt das Staatsprinzip zur Herrschaft.
Die von uns eben behauptete ursprüngliche Selbständigkeit des Privatrechts ist eine nothwendige Consequenz des Prinzips des subjektiven Willens. Der Staat kann auf indirektem Wege einen Einfluß auf das Privatrecht ausüben, z. B. durch Ent- ziehung politischer Rechte (Censor), aber er hat keine direkte Macht über dasselbe. Er hat das Privatrecht nicht verliehen und darf es darum auch nicht beschränken. Die Gemeinschaft, deren Ausdruck er ist, beschränkt sich auf die öffentlichen d. h.
2. Der Staat — Verhältniß zum Privatrecht. §. 15.
bei dem unſere Ausführung über das Prinzip des ſubjektiven Willens gewiſſermaßen ihre Probe zu beſtehen hat, es iſt dies nämlich:
4. Das Verhältniß des Staats zum Privatrecht.
Nach einer verbreiteten Anſicht, die auf den erſten Blick et- was Scheinbares hat, hätte das Privatrecht in älteſter Zeit in völliger Abhängigkeit vom Staat geſtanden und ſich erſt nach und nach daraus befreit, während umgekehrt unſer Prinzip des ſubjektiven Willens uns zur Annahme des gerade entgegenge- ſetzten Extrems zwingt, nämlich der urſprünglichen völligen Unabhängigkeit des Privatrechts vom Staat. Der Schein, den jene Anſicht für ſich hat, beſteht in den öffentlichen Formen, in denen das Privatrecht jener Zeit auftritt, ſo wie in der Gegen- ſatzloſigkeit des geſammten Rechts, die wir in §. 19 berühren werden. Aber gerade jene Formen beweiſen, daß der Staat an ſich mit dem Privatrecht nichts zu thun hat, ſie werden eben nur angewandt, um ihn mit demſelben in eine Beziehung zu ſetzen, die von vornherein nicht exiſtirt. Jene Gegenſatzloſigkeit aber beſteht nicht darin, daß der Staat das Privatrecht, ſondern das Privatrecht den Staat dominirt d. h. daß der Staat nach pri- vatrechtlichen Prinzipien conſtruirt iſt. Es wäre gegen alle Geſchichte, daß der Staat das Privatrecht aus ſich ſollte ge- boren haben; das Gefühl der individuellen Selbſtändigkeit iſt das abſolut erſte, und erſt im mühſamen, allmähligen Kampfe mit demſelben gelangt das Staatsprinzip zur Herrſchaft.
Die von uns eben behauptete urſprüngliche Selbſtändigkeit des Privatrechts iſt eine nothwendige Conſequenz des Prinzips des ſubjektiven Willens. Der Staat kann auf indirektem Wege einen Einfluß auf das Privatrecht ausüben, z. B. durch Ent- ziehung politiſcher Rechte (Cenſor), aber er hat keine direkte Macht über daſſelbe. Er hat das Privatrecht nicht verliehen und darf es darum auch nicht beſchränken. Die Gemeinſchaft, deren Ausdruck er iſt, beſchränkt ſich auf die öffentlichen d. h.
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2. Der Staat — Verhältniß zum Privatrecht. §. 15.
bei dem unſere Ausführung über das Prinzip des ſubjektiven
Willens gewiſſermaßen ihre Probe zu beſtehen hat, es iſt dies
nämlich:
4. Das Verhältniß des Staats zum Privatrecht.
Nach einer verbreiteten Anſicht, die auf den erſten Blick et-
was Scheinbares hat, hätte das Privatrecht in älteſter Zeit in
völliger Abhängigkeit vom Staat geſtanden und ſich erſt nach
und nach daraus befreit, während umgekehrt unſer Prinzip des
ſubjektiven Willens uns zur Annahme des gerade entgegenge-
ſetzten Extrems zwingt, nämlich der urſprünglichen völligen
Unabhängigkeit des Privatrechts vom Staat. Der Schein,
den jene Anſicht für ſich hat, beſteht in den öffentlichen Formen,
in denen das Privatrecht jener Zeit auftritt, ſo wie in der Gegen-
ſatzloſigkeit des geſammten Rechts, die wir in §. 19 berühren
werden. Aber gerade jene Formen beweiſen, daß der Staat an
ſich mit dem Privatrecht nichts zu thun hat, ſie werden eben nur
angewandt, um ihn mit demſelben in eine Beziehung zu ſetzen,
die von vornherein nicht exiſtirt. Jene Gegenſatzloſigkeit aber
beſteht nicht darin, daß der Staat das Privatrecht, ſondern das
Privatrecht den Staat dominirt d. h. daß der Staat nach pri-
vatrechtlichen Prinzipien conſtruirt iſt. Es wäre gegen alle
Geſchichte, daß der Staat das Privatrecht aus ſich ſollte ge-
boren haben; das Gefühl der individuellen Selbſtändigkeit iſt
das abſolut erſte, und erſt im mühſamen, allmähligen Kampfe
mit demſelben gelangt das Staatsprinzip zur Herrſchaft.
Die von uns eben behauptete urſprüngliche Selbſtändigkeit
des Privatrechts iſt eine nothwendige Conſequenz des Prinzips
des ſubjektiven Willens. Der Staat kann auf indirektem Wege
einen Einfluß auf das Privatrecht ausüben, z. B. durch Ent-
ziehung politiſcher Rechte (Cenſor), aber er hat keine direkte
Macht über daſſelbe. Er hat das Privatrecht nicht verliehen
und darf es darum auch nicht beſchränken. Die Gemeinſchaft,
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/223>, abgerufen am 05.07.2024.
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