Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes Buch -- Ausgangspunkte des röm. Rechts.
vermuthen, daß ein Rechtsinstitut an dem Punkt zuerst zum
Vorschein gekommen ist, wo das Bedürfniß nach demselben am
dringendsten war. Wir haben für die römischen Testamente
einen solchen Punkt aufgedeckt und halten es für wahrscheinli-
cher, daß dasselbe sittliche Motiv, dem das Erbrecht überhaupt
seine Existenz verdankt, und das gerade in der ältesten Verfas-
sung eine so mächtige Wirksamkeit entfaltet, das der Familien-
liebe, auch die Testamente hervorgerufen, als daß die bloße
Willkühr dies hätte vollbringen können; daß mit andern Wor-
ten die Testamente nicht als Widersacher, sondern als Diene-
rinnen der Familie in der Geschichte des Rechts auftreten.

Der Staat vom Standpunkt des subjektiven Prinzips aus -- Die
publicistische Societät der Individuen -- Basirung der Strafge-
walt auf Rache, der gesetzgebenden Gewalt und des Rechts-
schutzes auf Vertrag -- lex und jus -- Dualismus der vom
Staat anerkannten und der bloß subjektiven Rechte.

XV. Der Weg, den wir bisher zurückgelegt haben, hat
uns vom Individuum aus durch die Familie zur Gens geführt,
und wenn wir jetzt den letzten Schritt machen, den von der
Gens zum Staat, so ist es nicht sowohl der Punkt, bei dem
wir damit anlangen, der unsere Aufmerksamkeit in Anspruch
nehmen soll -- jene vielbesprochene älteste Verfassung des rö-
mischen Staats --, als der Schritt selbst, den wir zu dem Zweck
zu thun haben. Unsere Frage ist nämlich die: erscheint der
Staat gegenüber den Ideen, die wir bisher haben kennen ler-
nen, als Schritt oder als Sprung, mit andern Worten mittelst
ihrer construirbar oder als etwas spezifisch Neues?

Diese Frage mag befremdend erscheinen; denn ist, kann
man sagen, der Staat gegenüber den Individuen nicht stets
etwas spezifisch Neues, ist er nicht eine von ihnen verschiedene,
ihnen übergeordnete Macht, thätig werdend durch eigne Organe
und Vertreter, ein Wesen höherer Art mit höheren Zwecken und

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
vermuthen, daß ein Rechtsinſtitut an dem Punkt zuerſt zum
Vorſchein gekommen iſt, wo das Bedürfniß nach demſelben am
dringendſten war. Wir haben für die römiſchen Teſtamente
einen ſolchen Punkt aufgedeckt und halten es für wahrſcheinli-
cher, daß daſſelbe ſittliche Motiv, dem das Erbrecht überhaupt
ſeine Exiſtenz verdankt, und das gerade in der älteſten Verfaſ-
ſung eine ſo mächtige Wirkſamkeit entfaltet, das der Familien-
liebe, auch die Teſtamente hervorgerufen, als daß die bloße
Willkühr dies hätte vollbringen können; daß mit andern Wor-
ten die Teſtamente nicht als Widerſacher, ſondern als Diene-
rinnen der Familie in der Geſchichte des Rechts auftreten.

Der Staat vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus — Die
publiciſtiſche Societät der Individuen — Baſirung der Strafge-
walt auf Rache, der geſetzgebenden Gewalt und des Rechts-
ſchutzes auf Vertrag — lex und jus — Dualismus der vom
Staat anerkannten und der bloß ſubjektiven Rechte.

XV. Der Weg, den wir bisher zurückgelegt haben, hat
uns vom Individuum aus durch die Familie zur Gens geführt,
und wenn wir jetzt den letzten Schritt machen, den von der
Gens zum Staat, ſo iſt es nicht ſowohl der Punkt, bei dem
wir damit anlangen, der unſere Aufmerkſamkeit in Anſpruch
nehmen ſoll — jene vielbeſprochene älteſte Verfaſſung des rö-
miſchen Staats —, als der Schritt ſelbſt, den wir zu dem Zweck
zu thun haben. Unſere Frage iſt nämlich die: erſcheint der
Staat gegenüber den Ideen, die wir bisher haben kennen ler-
nen, als Schritt oder als Sprung, mit andern Worten mittelſt
ihrer conſtruirbar oder als etwas ſpezifiſch Neues?

Dieſe Frage mag befremdend erſcheinen; denn iſt, kann
man ſagen, der Staat gegenüber den Individuen nicht ſtets
etwas ſpezifiſch Neues, iſt er nicht eine von ihnen verſchiedene,
ihnen übergeordnete Macht, thätig werdend durch eigne Organe
und Vertreter, ein Weſen höherer Art mit höheren Zwecken und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0210" n="192"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;tes Buch &#x2014; Ausgangspunkte des röm. Rechts.</fw><lb/>
vermuthen, daß ein Rechtsin&#x017F;titut an dem Punkt zuer&#x017F;t zum<lb/>
Vor&#x017F;chein gekommen i&#x017F;t, wo das Bedürfniß nach dem&#x017F;elben am<lb/>
dringend&#x017F;ten war. Wir haben für die römi&#x017F;chen Te&#x017F;tamente<lb/>
einen &#x017F;olchen Punkt aufgedeckt und halten es für wahr&#x017F;cheinli-<lb/>
cher, daß da&#x017F;&#x017F;elbe &#x017F;ittliche Motiv, dem das Erbrecht überhaupt<lb/>
&#x017F;eine Exi&#x017F;tenz verdankt, und das gerade in der älte&#x017F;ten Verfa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ung eine &#x017F;o mächtige Wirk&#x017F;amkeit entfaltet, das der Familien-<lb/>
liebe, auch die Te&#x017F;tamente hervorgerufen, als daß die bloße<lb/>
Willkühr dies hätte vollbringen können; daß mit andern Wor-<lb/>
ten die Te&#x017F;tamente nicht als Wider&#x017F;acher, &#x017F;ondern als Diene-<lb/>
rinnen der Familie in der Ge&#x017F;chichte des Rechts auftreten.</p>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head> <hi rendition="#b">Der Staat vom Standpunkt des &#x017F;ubjektiven Prinzips aus &#x2014; Die<lb/>
publici&#x017F;ti&#x017F;che Societät der Individuen &#x2014; Ba&#x017F;irung der Strafge-<lb/>
walt auf Rache, der ge&#x017F;etzgebenden Gewalt und des Rechts-<lb/>
&#x017F;chutzes auf Vertrag &#x2014; <hi rendition="#aq">lex</hi> und <hi rendition="#aq">jus</hi> &#x2014; Dualismus der vom<lb/>
Staat anerkannten und der bloß &#x017F;ubjektiven Rechte.</hi> </head><lb/>
                  <p><hi rendition="#aq">XV.</hi> Der Weg, den wir bisher zurückgelegt haben, hat<lb/>
uns vom Individuum aus durch die Familie zur Gens geführt,<lb/>
und wenn wir jetzt den letzten Schritt machen, den von der<lb/>
Gens zum Staat, &#x017F;o i&#x017F;t es nicht &#x017F;owohl der Punkt, bei dem<lb/>
wir damit anlangen, der un&#x017F;ere Aufmerk&#x017F;amkeit in An&#x017F;pruch<lb/>
nehmen &#x017F;oll &#x2014; jene vielbe&#x017F;prochene älte&#x017F;te Verfa&#x017F;&#x017F;ung des rö-<lb/>
mi&#x017F;chen Staats &#x2014;, als der Schritt &#x017F;elb&#x017F;t, den wir zu dem Zweck<lb/>
zu thun haben. Un&#x017F;ere Frage i&#x017F;t nämlich die: er&#x017F;cheint der<lb/>
Staat gegenüber den Ideen, die wir bisher haben kennen ler-<lb/>
nen, als Schritt oder als Sprung, mit andern Worten mittel&#x017F;t<lb/>
ihrer con&#x017F;truirbar oder als etwas &#x017F;pezifi&#x017F;ch Neues?</p><lb/>
                  <p>Die&#x017F;e Frage mag befremdend er&#x017F;cheinen; denn i&#x017F;t, kann<lb/>
man &#x017F;agen, der Staat gegenüber den Individuen nicht &#x017F;tets<lb/>
etwas &#x017F;pezifi&#x017F;ch Neues, i&#x017F;t er nicht eine von ihnen ver&#x017F;chiedene,<lb/>
ihnen übergeordnete Macht, thätig werdend durch eigne Organe<lb/>
und Vertreter, ein We&#x017F;en höherer Art mit höheren Zwecken und<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0210] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts. vermuthen, daß ein Rechtsinſtitut an dem Punkt zuerſt zum Vorſchein gekommen iſt, wo das Bedürfniß nach demſelben am dringendſten war. Wir haben für die römiſchen Teſtamente einen ſolchen Punkt aufgedeckt und halten es für wahrſcheinli- cher, daß daſſelbe ſittliche Motiv, dem das Erbrecht überhaupt ſeine Exiſtenz verdankt, und das gerade in der älteſten Verfaſ- ſung eine ſo mächtige Wirkſamkeit entfaltet, das der Familien- liebe, auch die Teſtamente hervorgerufen, als daß die bloße Willkühr dies hätte vollbringen können; daß mit andern Wor- ten die Teſtamente nicht als Widerſacher, ſondern als Diene- rinnen der Familie in der Geſchichte des Rechts auftreten. Der Staat vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus — Die publiciſtiſche Societät der Individuen — Baſirung der Strafge- walt auf Rache, der geſetzgebenden Gewalt und des Rechts- ſchutzes auf Vertrag — lex und jus — Dualismus der vom Staat anerkannten und der bloß ſubjektiven Rechte. XV. Der Weg, den wir bisher zurückgelegt haben, hat uns vom Individuum aus durch die Familie zur Gens geführt, und wenn wir jetzt den letzten Schritt machen, den von der Gens zum Staat, ſo iſt es nicht ſowohl der Punkt, bei dem wir damit anlangen, der unſere Aufmerkſamkeit in Anſpruch nehmen ſoll — jene vielbeſprochene älteſte Verfaſſung des rö- miſchen Staats —, als der Schritt ſelbſt, den wir zu dem Zweck zu thun haben. Unſere Frage iſt nämlich die: erſcheint der Staat gegenüber den Ideen, die wir bisher haben kennen ler- nen, als Schritt oder als Sprung, mit andern Worten mittelſt ihrer conſtruirbar oder als etwas ſpezifiſch Neues? Dieſe Frage mag befremdend erſcheinen; denn iſt, kann man ſagen, der Staat gegenüber den Individuen nicht ſtets etwas ſpezifiſch Neues, iſt er nicht eine von ihnen verſchiedene, ihnen übergeordnete Macht, thätig werdend durch eigne Organe und Vertreter, ein Weſen höherer Art mit höheren Zwecken und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/210
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/210>, abgerufen am 18.11.2024.