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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des röm. Rechts.
konnten seine Genossen ihn strafen, ihm etwas von dem Sei-
nigen entziehen? -- aber andererseits konnten letztere dann er-
klären, daß sie ihn nicht länger beim Gottesdienst oder über-
haupt nicht länger in ihrer Mitte dulden wollten. In dieser
Negative lag das indirekte Zwangsmittel zur Entrichtung
der positiven Strafe. Diese Entrichtung stützte sich also auf die
eigne Wahl des Bestraften, auf seine Einwilligung, und ich
darf hier, wo uns zum ersten Mal auf dem Gebiete des ältesten
Rechts die Strafe begegnet, gleich darauf aufmerksam machen,
daß auch sie sich jenem Fundamentalgrundsatz fügt, den wir in
§. 12 in dem ältern Civilprozeß nachgewiesen haben, daß näm-
lich der subjektive Wille der Urquell der Berechtigung und Ver-
pflichtung ist. Wie dort die manus injectio auf indirektem Wege
die vertragsmäßige Unterwerfung unter den Richter bewirkt, so
hier die Aussicht auf Ausstoßung aus der Gens die Unterwer-
fung unter das gefällte Strafurtheil.

Dies negative Strafmittel ersetzte also der Gens vollständig
den Mangel einer positiven Strafgewalt oder richtiger sie schloß
letztere dem Erfolg nach in sich, ähnlich wie die Excommunica-
tion für die kirchliche Strafgewalt im Mittelalter dieselbe Be-
deutung hatte. Es war damit der Gens möglich gemacht, eine
sittenrichterliche Gewalt über das einzelne Mitglied auszuüben,
auf indirektem Wege jene, soll ich sagen, theoretisch unbe-
schränkte Freiheit des Individuums in höchst wirksamer Weise
zu temperiren. Es ist nun meine feste Ueberzeugung, daß dies
in ausgedehntem Maße geschah, und zwar stütze ich sie auf fol-
gende Erwägung. Es war eine ächt römische Idee, daß zwar
die individuelle Freiheit eines möglichen Mißbrauches wegen
rechtlich nicht beschränkt zu werden brauche oder dürfe, dem
Mißbrauch aber auf anderm Wege, nämlich durch die sittenpo-
lizeiliche Gewalt des Censors gesteuert werden müsse. Wenn
nun dieses für unsere Auffassung im hohen Grade befremdliche
Eingreifen des Censors in das Privatleben der römischen Sin-
nesweise selbst zur Zeit der höchsten Freiheitsentwicklung nicht

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
konnten ſeine Genoſſen ihn ſtrafen, ihm etwas von dem Sei-
nigen entziehen? — aber andererſeits konnten letztere dann er-
klären, daß ſie ihn nicht länger beim Gottesdienſt oder über-
haupt nicht länger in ihrer Mitte dulden wollten. In dieſer
Negative lag das indirekte Zwangsmittel zur Entrichtung
der poſitiven Strafe. Dieſe Entrichtung ſtützte ſich alſo auf die
eigne Wahl des Beſtraften, auf ſeine Einwilligung, und ich
darf hier, wo uns zum erſten Mal auf dem Gebiete des älteſten
Rechts die Strafe begegnet, gleich darauf aufmerkſam machen,
daß auch ſie ſich jenem Fundamentalgrundſatz fügt, den wir in
§. 12 in dem ältern Civilprozeß nachgewieſen haben, daß näm-
lich der ſubjektive Wille der Urquell der Berechtigung und Ver-
pflichtung iſt. Wie dort die manus injectio auf indirektem Wege
die vertragsmäßige Unterwerfung unter den Richter bewirkt, ſo
hier die Ausſicht auf Ausſtoßung aus der Gens die Unterwer-
fung unter das gefällte Strafurtheil.

Dies negative Strafmittel erſetzte alſo der Gens vollſtändig
den Mangel einer poſitiven Strafgewalt oder richtiger ſie ſchloß
letztere dem Erfolg nach in ſich, ähnlich wie die Excommunica-
tion für die kirchliche Strafgewalt im Mittelalter dieſelbe Be-
deutung hatte. Es war damit der Gens möglich gemacht, eine
ſittenrichterliche Gewalt über das einzelne Mitglied auszuüben,
auf indirektem Wege jene, ſoll ich ſagen, theoretiſch unbe-
ſchränkte Freiheit des Individuums in höchſt wirkſamer Weiſe
zu temperiren. Es iſt nun meine feſte Ueberzeugung, daß dies
in ausgedehntem Maße geſchah, und zwar ſtütze ich ſie auf fol-
gende Erwägung. Es war eine ächt römiſche Idee, daß zwar
die individuelle Freiheit eines möglichen Mißbrauches wegen
rechtlich nicht beſchränkt zu werden brauche oder dürfe, dem
Mißbrauch aber auf anderm Wege, nämlich durch die ſittenpo-
lizeiliche Gewalt des Cenſors geſteuert werden müſſe. Wenn
nun dieſes für unſere Auffaſſung im hohen Grade befremdliche
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nesweiſe ſelbſt zur Zeit der höchſten Freiheitsentwicklung nicht

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[176/0194] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts. konnten ſeine Genoſſen ihn ſtrafen, ihm etwas von dem Sei- nigen entziehen? — aber andererſeits konnten letztere dann er- klären, daß ſie ihn nicht länger beim Gottesdienſt oder über- haupt nicht länger in ihrer Mitte dulden wollten. In dieſer Negative lag das indirekte Zwangsmittel zur Entrichtung der poſitiven Strafe. Dieſe Entrichtung ſtützte ſich alſo auf die eigne Wahl des Beſtraften, auf ſeine Einwilligung, und ich darf hier, wo uns zum erſten Mal auf dem Gebiete des älteſten Rechts die Strafe begegnet, gleich darauf aufmerkſam machen, daß auch ſie ſich jenem Fundamentalgrundſatz fügt, den wir in §. 12 in dem ältern Civilprozeß nachgewieſen haben, daß näm- lich der ſubjektive Wille der Urquell der Berechtigung und Ver- pflichtung iſt. Wie dort die manus injectio auf indirektem Wege die vertragsmäßige Unterwerfung unter den Richter bewirkt, ſo hier die Ausſicht auf Ausſtoßung aus der Gens die Unterwer- fung unter das gefällte Strafurtheil. Dies negative Strafmittel erſetzte alſo der Gens vollſtändig den Mangel einer poſitiven Strafgewalt oder richtiger ſie ſchloß letztere dem Erfolg nach in ſich, ähnlich wie die Excommunica- tion für die kirchliche Strafgewalt im Mittelalter dieſelbe Be- deutung hatte. Es war damit der Gens möglich gemacht, eine ſittenrichterliche Gewalt über das einzelne Mitglied auszuüben, auf indirektem Wege jene, ſoll ich ſagen, theoretiſch unbe- ſchränkte Freiheit des Individuums in höchſt wirkſamer Weiſe zu temperiren. Es iſt nun meine feſte Ueberzeugung, daß dies in ausgedehntem Maße geſchah, und zwar ſtütze ich ſie auf fol- gende Erwägung. Es war eine ächt römiſche Idee, daß zwar die individuelle Freiheit eines möglichen Mißbrauches wegen rechtlich nicht beſchränkt zu werden brauche oder dürfe, dem Mißbrauch aber auf anderm Wege, nämlich durch die ſittenpo- lizeiliche Gewalt des Cenſors geſteuert werden müſſe. Wenn nun dieſes für unſere Auffaſſung im hohen Grade befremdliche Eingreifen des Cenſors in das Privatleben der römiſchen Sin- nesweiſe ſelbſt zur Zeit der höchſten Freiheitsentwicklung nicht

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/194>, abgerufen am 24.11.2024.