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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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2. Der Staat -- 1. Familienprinzip -- die Gentilverbindung. §. 14.
zur Evidenz erheben. Die Sprache gibt uns in der Bezeich-
nung gens, Geschlecht, den deutlichsten Fingerzeig. 78)

Wir wenden uns zuerst der inneren Organisation der Gens
zu und fassen das Resultat der folgenden Ausführung in den
Satz zusammen, daß die Gens die Identität der Familie und
des Staats ist, sich, wie man es will, als eine Familie mit
staatsrechtlichem Charakter und als ein Staat mit familienarti-
gem Charakter bezeichnen läßt. Sie geht hervor aus der Fami-
lie und bewahrt sich die Innigkeit dieser Verbindung; indem sie
aber andererseits eine politische Größe wird, wirkt diese ihre
politische Seite ebenso sehr auf ihre familienrechtliche Seite zu-
rück, wie letztere auf jene. Beide Seiten laufen so in einander
über, daß eine genaue Scheidung derselben kaum möglich ist.

Da die Gentilitätsverbindung schon früh ihre wesentliche
Bedeutung verlor, so ist es nicht zu verwundern, daß un-
sere Nachrichten über sie nur dürftig und unvollständig sind.
Aber es ragen doch noch einzelne erhaltene Punkte hervor, aus
denen sich mit Hülfe sonstiger historischer Analogien und der
inneren Consequenz der Sache selbst das Wesen jener Verbin-
dung bestimmen läßt. Wir wollen diesen Versuch machen.

Die Verbindung, die die Gens begründet, umfaßt die ganze
Existenz des Einzelnen; alle Interessen, die sein Leben bewe-
gen, weisen ihn auf sie zurück und finden innerhalb ihrer theils
ihre ausschließliche Befriedigung, theils wenigstens Anknü-
pfungspunkte. Die Verehrung der Götter wie der Waffendienst
und die Ausübung politischer Thätigkeit führt die Gentilen stets
wieder zusammen. In den heiligsten und ernstesten Momenten
des Lebens, im Tempel wie auf dem Schlachtfelde, stehen sie
sich zur Seite; Schande und Ehre, Glück und Unglück ist ge-
meinsam. Der Glanz und der Ruhm der Gens kömmt dem Ein-

78) Gens, genus vom Sanskr. dschan, geboren werden. Der Name
decuria bezeichnet die gens von Seiten ihrer Stellung in der Wehrverfas-
sung. S. §. 17.

2. Der Staat — 1. Familienprinzip — die Gentilverbindung. §. 14.
zur Evidenz erheben. Die Sprache gibt uns in der Bezeich-
nung gens, Geſchlecht, den deutlichſten Fingerzeig. 78)

Wir wenden uns zuerſt der inneren Organiſation der Gens
zu und faſſen das Reſultat der folgenden Ausführung in den
Satz zuſammen, daß die Gens die Identität der Familie und
des Staats iſt, ſich, wie man es will, als eine Familie mit
ſtaatsrechtlichem Charakter und als ein Staat mit familienarti-
gem Charakter bezeichnen läßt. Sie geht hervor aus der Fami-
lie und bewahrt ſich die Innigkeit dieſer Verbindung; indem ſie
aber andererſeits eine politiſche Größe wird, wirkt dieſe ihre
politiſche Seite ebenſo ſehr auf ihre familienrechtliche Seite zu-
rück, wie letztere auf jene. Beide Seiten laufen ſo in einander
über, daß eine genaue Scheidung derſelben kaum möglich iſt.

Da die Gentilitätsverbindung ſchon früh ihre weſentliche
Bedeutung verlor, ſo iſt es nicht zu verwundern, daß un-
ſere Nachrichten über ſie nur dürftig und unvollſtändig ſind.
Aber es ragen doch noch einzelne erhaltene Punkte hervor, aus
denen ſich mit Hülfe ſonſtiger hiſtoriſcher Analogien und der
inneren Conſequenz der Sache ſelbſt das Weſen jener Verbin-
dung beſtimmen läßt. Wir wollen dieſen Verſuch machen.

Die Verbindung, die die Gens begründet, umfaßt die ganze
Exiſtenz des Einzelnen; alle Intereſſen, die ſein Leben bewe-
gen, weiſen ihn auf ſie zurück und finden innerhalb ihrer theils
ihre ausſchließliche Befriedigung, theils wenigſtens Anknü-
pfungspunkte. Die Verehrung der Götter wie der Waffendienſt
und die Ausübung politiſcher Thätigkeit führt die Gentilen ſtets
wieder zuſammen. In den heiligſten und ernſteſten Momenten
des Lebens, im Tempel wie auf dem Schlachtfelde, ſtehen ſie
ſich zur Seite; Schande und Ehre, Glück und Unglück iſt ge-
meinſam. Der Glanz und der Ruhm der Gens kömmt dem Ein-

78) Gens, genus vom Sanskr. dschan, geboren werden. Der Name
decuria bezeichnet die gens von Seiten ihrer Stellung in der Wehrverfaſ-
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[169/0187] 2. Der Staat — 1. Familienprinzip — die Gentilverbindung. §. 14. zur Evidenz erheben. Die Sprache gibt uns in der Bezeich- nung gens, Geſchlecht, den deutlichſten Fingerzeig. 78) Wir wenden uns zuerſt der inneren Organiſation der Gens zu und faſſen das Reſultat der folgenden Ausführung in den Satz zuſammen, daß die Gens die Identität der Familie und des Staats iſt, ſich, wie man es will, als eine Familie mit ſtaatsrechtlichem Charakter und als ein Staat mit familienarti- gem Charakter bezeichnen läßt. Sie geht hervor aus der Fami- lie und bewahrt ſich die Innigkeit dieſer Verbindung; indem ſie aber andererſeits eine politiſche Größe wird, wirkt dieſe ihre politiſche Seite ebenſo ſehr auf ihre familienrechtliche Seite zu- rück, wie letztere auf jene. Beide Seiten laufen ſo in einander über, daß eine genaue Scheidung derſelben kaum möglich iſt. Da die Gentilitätsverbindung ſchon früh ihre weſentliche Bedeutung verlor, ſo iſt es nicht zu verwundern, daß un- ſere Nachrichten über ſie nur dürftig und unvollſtändig ſind. Aber es ragen doch noch einzelne erhaltene Punkte hervor, aus denen ſich mit Hülfe ſonſtiger hiſtoriſcher Analogien und der inneren Conſequenz der Sache ſelbſt das Weſen jener Verbin- dung beſtimmen läßt. Wir wollen dieſen Verſuch machen. Die Verbindung, die die Gens begründet, umfaßt die ganze Exiſtenz des Einzelnen; alle Intereſſen, die ſein Leben bewe- gen, weiſen ihn auf ſie zurück und finden innerhalb ihrer theils ihre ausſchließliche Befriedigung, theils wenigſtens Anknü- pfungspunkte. Die Verehrung der Götter wie der Waffendienſt und die Ausübung politiſcher Thätigkeit führt die Gentilen ſtets wieder zuſammen. In den heiligſten und ernſteſten Momenten des Lebens, im Tempel wie auf dem Schlachtfelde, ſtehen ſie ſich zur Seite; Schande und Ehre, Glück und Unglück iſt ge- meinſam. Der Glanz und der Ruhm der Gens kömmt dem Ein- 78) Gens, genus vom Sanskr. dschan, geboren werden. Der Name decuria bezeichnet die gens von Seiten ihrer Stellung in der Wehrverfaſ- ſung. S. §. 17.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/187>, abgerufen am 24.11.2024.