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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des röm. Rechts.
einer reichen politischen Entwicklung. Je mehr die Klasse dieser
Staatsangehörigen, die von der activen Theilnahme am Staat
ausgeschlossen sind und sich als Unterthanen des herrschenden
Standes bezeichnen lassen, an numerischer Stärke und Wohl-
stand zunimmt, um so mehr strebt sie, ihre rechtliche Stellung
zu verbessern, und diese Bestrebungen mit der ewigen Friction,
die sie hervorrufen, sind für die ganze Rechts- und Staatsent-
wicklung von den wohlthätigsten Folgen. Sie spornen auf beiden
Seiten die vorhandenen Kräfte auf ihr höchstes Maß und er-
schließen eine unversiegbare Quelle politischer Intelligenz und
Thatkraft. Es ist dies Verhältniß treffend verglichen 77) mit
"zwei aufeinander gefügten Mühlsteinen, durch deren Bewegung
das wahre politische Leben erst hervortritt"; man könnte auch
auf die Funken verweisen, die dem Feuerstein entsprühen, wenn
der Stahl ihn trifft.

Neben dem Geschlechterstaat gibt es noch einen andern Aus-
fluß des Familienprinzips, den patriarchalischen Staat. Der
Unterschied beider liegt darin, daß die Familie dort bloß zur
rechtlichen Basis des Staats gemacht wird, hier aber den Pro-
totypus der ganzen Verfassung und Verwaltung gewährt. Das
Verhältniß der staatlichen Unterordnung ist dem der Kinder zum
Vater nachgebildet, die Macht des Staatsoberhauptes ist eine
erweiterte väterliche Gewalt und wird in diesem Geiste gehand-
habt. Beide Ausflüsse des Familienprinzips können in einer und
derselben Staatsverfassung zusammentreffen; der Geschlechter-
staat begründet dann das Verhältniß in der "Seitenlinie", die
politische Verbrüderung; der Patriarchalstaat das Verhält-
niß in "auf- und absteigender Linie", die politische patria
potestas
.

77) Von Göttling Geschichte der röm. Staatsverf. S. 285. Wenn er
aber hinzufügt: "bis der härtere Stein des plebejischen Prinzips den wei-
cheren
des patricischen mürbe gerieben hatte", so mag diese Vertheilung der
Härte und Weichheit für die beiden Mühlsteine durchaus zutreffen, für Pa-
tricier und Plebejer aber nichts weniger, als das.

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
einer reichen politiſchen Entwicklung. Je mehr die Klaſſe dieſer
Staatsangehörigen, die von der activen Theilnahme am Staat
ausgeſchloſſen ſind und ſich als Unterthanen des herrſchenden
Standes bezeichnen laſſen, an numeriſcher Stärke und Wohl-
ſtand zunimmt, um ſo mehr ſtrebt ſie, ihre rechtliche Stellung
zu verbeſſern, und dieſe Beſtrebungen mit der ewigen Friction,
die ſie hervorrufen, ſind für die ganze Rechts- und Staatsent-
wicklung von den wohlthätigſten Folgen. Sie ſpornen auf beiden
Seiten die vorhandenen Kräfte auf ihr höchſtes Maß und er-
ſchließen eine unverſiegbare Quelle politiſcher Intelligenz und
Thatkraft. Es iſt dies Verhältniß treffend verglichen 77) mit
„zwei aufeinander gefügten Mühlſteinen, durch deren Bewegung
das wahre politiſche Leben erſt hervortritt“; man könnte auch
auf die Funken verweiſen, die dem Feuerſtein entſprühen, wenn
der Stahl ihn trifft.

Neben dem Geſchlechterſtaat gibt es noch einen andern Aus-
fluß des Familienprinzips, den patriarchaliſchen Staat. Der
Unterſchied beider liegt darin, daß die Familie dort bloß zur
rechtlichen Baſis des Staats gemacht wird, hier aber den Pro-
totypus der ganzen Verfaſſung und Verwaltung gewährt. Das
Verhältniß der ſtaatlichen Unterordnung iſt dem der Kinder zum
Vater nachgebildet, die Macht des Staatsoberhauptes iſt eine
erweiterte väterliche Gewalt und wird in dieſem Geiſte gehand-
habt. Beide Ausflüſſe des Familienprinzips können in einer und
derſelben Staatsverfaſſung zuſammentreffen; der Geſchlechter-
ſtaat begründet dann das Verhältniß in der „Seitenlinie“, die
politiſche Verbrüderung; der Patriarchalſtaat das Verhält-
niß in „auf- und abſteigender Linie“, die politiſche patria
potestas
.

77) Von Göttling Geſchichte der röm. Staatsverf. S. 285. Wenn er
aber hinzufügt: „bis der härtere Stein des plebejiſchen Prinzips den wei-
cheren
des patriciſchen mürbe gerieben hatte“, ſo mag dieſe Vertheilung der
Härte und Weichheit für die beiden Mühlſteine durchaus zutreffen, für Pa-
tricier und Plebejer aber nichts weniger, als das.
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[166/0184] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts. einer reichen politiſchen Entwicklung. Je mehr die Klaſſe dieſer Staatsangehörigen, die von der activen Theilnahme am Staat ausgeſchloſſen ſind und ſich als Unterthanen des herrſchenden Standes bezeichnen laſſen, an numeriſcher Stärke und Wohl- ſtand zunimmt, um ſo mehr ſtrebt ſie, ihre rechtliche Stellung zu verbeſſern, und dieſe Beſtrebungen mit der ewigen Friction, die ſie hervorrufen, ſind für die ganze Rechts- und Staatsent- wicklung von den wohlthätigſten Folgen. Sie ſpornen auf beiden Seiten die vorhandenen Kräfte auf ihr höchſtes Maß und er- ſchließen eine unverſiegbare Quelle politiſcher Intelligenz und Thatkraft. Es iſt dies Verhältniß treffend verglichen 77) mit „zwei aufeinander gefügten Mühlſteinen, durch deren Bewegung das wahre politiſche Leben erſt hervortritt“; man könnte auch auf die Funken verweiſen, die dem Feuerſtein entſprühen, wenn der Stahl ihn trifft. Neben dem Geſchlechterſtaat gibt es noch einen andern Aus- fluß des Familienprinzips, den patriarchaliſchen Staat. Der Unterſchied beider liegt darin, daß die Familie dort bloß zur rechtlichen Baſis des Staats gemacht wird, hier aber den Pro- totypus der ganzen Verfaſſung und Verwaltung gewährt. Das Verhältniß der ſtaatlichen Unterordnung iſt dem der Kinder zum Vater nachgebildet, die Macht des Staatsoberhauptes iſt eine erweiterte väterliche Gewalt und wird in dieſem Geiſte gehand- habt. Beide Ausflüſſe des Familienprinzips können in einer und derſelben Staatsverfaſſung zuſammentreffen; der Geſchlechter- ſtaat begründet dann das Verhältniß in der „Seitenlinie“, die politiſche Verbrüderung; der Patriarchalſtaat das Verhält- niß in „auf- und abſteigender Linie“, die politiſche patria potestas. 77) Von Göttling Geſchichte der röm. Staatsverf. S. 285. Wenn er aber hinzufügt: „bis der härtere Stein des plebejiſchen Prinzips den wei- cheren des patriciſchen mürbe gerieben hatte“, ſo mag dieſe Vertheilung der Härte und Weichheit für die beiden Mühlſteine durchaus zutreffen, für Pa- tricier und Plebejer aber nichts weniger, als das.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/184>, abgerufen am 24.11.2024.