solle. Die entscheidende Kraft, die dem Richterspruch zukömmt, beruht also nicht darauf, daß er von einem öffentlichen Richter ausgeht, sondern darauf, daß die Partheien dies gewollt ha- ben. Wir können ihren Vertrag als ein bedingtes Versprechen bezeichnen; sie versprechen, daß dem Sieger das werden solle, was der Richter ihm zuerkennen wird.
Die Consequenzen dieser Auffassung sind im ältern Prozeß in aller ihrer Strenge durchgeführt. Die alte Verbindlichkeit gilt als erloschen, folglich kann der Kläger die Klage nicht mehr fallen lassen und eine neue anstellen, und der Beklagte ebenso- wenig durch Vornahme der geforderten Leistung sich der Verur- theilung entziehen. An die Stelle der alten Verbindlichkeit ist durch den Vertrag der Partheien eine neue, bedingte gesetzt, und sie haben fortan nur auf die Erfüllung der Bedingung zu war- ten. Da diese neue sich auf einen Vertrag stützt, so nimmt die frühere, wenn sie aus einem Delikt entstand, bei dieser Meta- morphose alle Eigenthümlichkeiten der Obligationen aus Ver- trägen in sich auf, wird z. B. vererblich, während sie dies frü- her nicht war.
Der Vertrag, der in dieser Weise zum Fundament des gan- zen Prozesses gemacht wird, heißt Litis contestatio; er ward vor dem Prätor unter Aufrufung von Zeugen (contestari) ab- geschlossen. Man hat die Vertragsnatur der Litiscontestatio bestritten und ihr die "Natur des Prozesses" entgegengestellt, aus der sich schon mit Nothwendigkeit die Folgen der Litiscontesta- tio ergeben sollten, gleich als wenn die alten Römer die Natur des Prozesses mit unsern heutigen Augen angesehn hätten und nicht vielmehr überall, wo heutzutage Jemanden auch ohne sei- nen Willen eine Verpflichtung, ein Nachtheil trifft, erst die aus- drückliche, wenn auch indirekt erzwingbare Einwilligung dessel- ben verlangt hätten. Es ist in meinen Augen dem Geiste des ältern Rechts durchaus widerstrebend, daß die Litiscontestatio alle Folgen eines contraktlichen Verhältnisses sollte nach sich ge- zogen haben, ohne selbst ein Contrakt gewesen zu sein. Man
Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
ſolle. Die entſcheidende Kraft, die dem Richterſpruch zukömmt, beruht alſo nicht darauf, daß er von einem öffentlichen Richter ausgeht, ſondern darauf, daß die Partheien dies gewollt ha- ben. Wir können ihren Vertrag als ein bedingtes Verſprechen bezeichnen; ſie verſprechen, daß dem Sieger das werden ſolle, was der Richter ihm zuerkennen wird.
Die Conſequenzen dieſer Auffaſſung ſind im ältern Prozeß in aller ihrer Strenge durchgeführt. Die alte Verbindlichkeit gilt als erloſchen, folglich kann der Kläger die Klage nicht mehr fallen laſſen und eine neue anſtellen, und der Beklagte ebenſo- wenig durch Vornahme der geforderten Leiſtung ſich der Verur- theilung entziehen. An die Stelle der alten Verbindlichkeit iſt durch den Vertrag der Partheien eine neue, bedingte geſetzt, und ſie haben fortan nur auf die Erfüllung der Bedingung zu war- ten. Da dieſe neue ſich auf einen Vertrag ſtützt, ſo nimmt die frühere, wenn ſie aus einem Delikt entſtand, bei dieſer Meta- morphoſe alle Eigenthümlichkeiten der Obligationen aus Ver- trägen in ſich auf, wird z. B. vererblich, während ſie dies frü- her nicht war.
Der Vertrag, der in dieſer Weiſe zum Fundament des gan- zen Prozeſſes gemacht wird, heißt Litis contestatio; er ward vor dem Prätor unter Aufrufung von Zeugen (contestari) ab- geſchloſſen. Man hat die Vertragsnatur der Litiscontestatio beſtritten und ihr die „Natur des Prozeſſes“ entgegengeſtellt, aus der ſich ſchon mit Nothwendigkeit die Folgen der Litiscontesta- tio ergeben ſollten, gleich als wenn die alten Römer die Natur des Prozeſſes mit unſern heutigen Augen angeſehn hätten und nicht vielmehr überall, wo heutzutage Jemanden auch ohne ſei- nen Willen eine Verpflichtung, ein Nachtheil trifft, erſt die aus- drückliche, wenn auch indirekt erzwingbare Einwilligung deſſel- ben verlangt hätten. Es iſt in meinen Augen dem Geiſte des ältern Rechts durchaus widerſtrebend, daß die Litiscontestatio alle Folgen eines contraktlichen Verhältniſſes ſollte nach ſich ge- zogen haben, ohne ſelbſt ein Contrakt geweſen zu ſein. Man
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Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
ſolle. Die entſcheidende Kraft, die dem Richterſpruch zukömmt,
beruht alſo nicht darauf, daß er von einem öffentlichen Richter
ausgeht, ſondern darauf, daß die Partheien dies gewollt ha-
ben. Wir können ihren Vertrag als ein bedingtes Verſprechen
bezeichnen; ſie verſprechen, daß dem Sieger das werden ſolle,
was der Richter ihm zuerkennen wird.
Die Conſequenzen dieſer Auffaſſung ſind im ältern Prozeß
in aller ihrer Strenge durchgeführt. Die alte Verbindlichkeit
gilt als erloſchen, folglich kann der Kläger die Klage nicht mehr
fallen laſſen und eine neue anſtellen, und der Beklagte ebenſo-
wenig durch Vornahme der geforderten Leiſtung ſich der Verur-
theilung entziehen. An die Stelle der alten Verbindlichkeit iſt
durch den Vertrag der Partheien eine neue, bedingte geſetzt, und
ſie haben fortan nur auf die Erfüllung der Bedingung zu war-
ten. Da dieſe neue ſich auf einen Vertrag ſtützt, ſo nimmt die
frühere, wenn ſie aus einem Delikt entſtand, bei dieſer Meta-
morphoſe alle Eigenthümlichkeiten der Obligationen aus Ver-
trägen in ſich auf, wird z. B. vererblich, während ſie dies frü-
her nicht war.
Der Vertrag, der in dieſer Weiſe zum Fundament des gan-
zen Prozeſſes gemacht wird, heißt Litis contestatio; er ward
vor dem Prätor unter Aufrufung von Zeugen (contestari) ab-
geſchloſſen. Man hat die Vertragsnatur der Litiscontestatio
beſtritten und ihr die „Natur des Prozeſſes“ entgegengeſtellt, aus
der ſich ſchon mit Nothwendigkeit die Folgen der Litiscontesta-
tio ergeben ſollten, gleich als wenn die alten Römer die Natur
des Prozeſſes mit unſern heutigen Augen angeſehn hätten und
nicht vielmehr überall, wo heutzutage Jemanden auch ohne ſei-
nen Willen eine Verpflichtung, ein Nachtheil trifft, erſt die aus-
drückliche, wenn auch indirekt erzwingbare Einwilligung deſſel-
ben verlangt hätten. Es iſt in meinen Augen dem Geiſte des
ältern Rechts durchaus widerſtrebend, daß die Litiscontestatio
alle Folgen eines contraktlichen Verhältniſſes ſollte nach ſich ge-
zogen haben, ohne ſelbſt ein Contrakt geweſen zu ſein. Man
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/174>, abgerufen am 26.07.2024.
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