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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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I. Prinzip des subj. Willens -- System der Selbsthülfe. §. 11.
Schuldner die Selbsthülfe des Gläubigers zu provociren, da,
die Evidenz des gegnerischen Anspruches vorausgesetzt, die Er-
folglosigkeit des eignen Widerstandes vorauszusehen war? Nur
bei Zweifelhaftigkeit dieses Anspruches lohnte es sich der Mühe
und dies, werden wir sehen, ist gerade der Punkt, wo die Ent-
stehung des Richteramtes ergänzend in das System der Selbst-
hülfe eingreift. Wir werden nun bei der folgenden Darstellung
zunächst den Fall ins Auge fassen, wo der durch Selbsthülfe
geltend zu machende Anspruch ein zweifelloser war, sei es daß die
Gegenparthei denselben zugestand, oder daß Zeugen bei Begrün-
dung desselben gegenwärtig gewesen waren -- hier lag keine
Rechtsfrage vor, sondern es bedurfte nur der Exekution -- und
sodann in §. 12 den Fall, wo dieser Anspruch ein zweifelhafter
war -- hier bedurfte es, um der Selbsthülfe des Berechtigten
die sichere Aussicht auf Erfolg zu gewähren, zunächst eines Mit-
tels, wodurch sein Recht außer Frage gestellt ward.

Die Selbsthülfe unter Voraussetzung eines
zweifellosen Anspruches
.

Bei einem Delikt hängt es vom Zufall ab, ob Zeugen ge-
genwärtig sind, bei Rechtsgeschäften hingegen können dieselben
stets hinzugezogen werden. Dieser Unterschied ist für den Ge-
sichtspunkt, von dem wir uns hier leiten lassen, dem der Zweifel-
losigkeit des Anspruches, von Einfluß und veranlaßt uns, die
Selbsthülfe unter Voraussetzung eines begangenen Delikts -- die
Privatrache -- von der Selbsthülfe in ihrer Richtung auf ver-
mögensrechtliche Ansprüche zu sondern. So innerlich verschie-
den uns beide Fälle der Selbsthülfe erscheinen mögen, so wenig
hat in ältester Zeit ein Gegensatz zwischen ihnen bestanden. Beide
umfaßt gemeinsam der Ausdruck vindicta; nicht in seiner spä-
teren Bedeutung, 27) in der er sich nur auf die Rache bezieht,
sondern in seinem ursprünglichen Sinn, wie derselbe noch in

27) Die z. B. in den actiones vindictam spirantes des spätern Rechts
hervortritt.

I. Prinzip des ſubj. Willens — Syſtem der Selbſthülfe. §. 11.
Schuldner die Selbſthülfe des Gläubigers zu provociren, da,
die Evidenz des gegneriſchen Anſpruches vorausgeſetzt, die Er-
folgloſigkeit des eignen Widerſtandes vorauszuſehen war? Nur
bei Zweifelhaftigkeit dieſes Anſpruches lohnte es ſich der Mühe
und dies, werden wir ſehen, iſt gerade der Punkt, wo die Ent-
ſtehung des Richteramtes ergänzend in das Syſtem der Selbſt-
hülfe eingreift. Wir werden nun bei der folgenden Darſtellung
zunächſt den Fall ins Auge faſſen, wo der durch Selbſthülfe
geltend zu machende Anſpruch ein zweifelloſer war, ſei es daß die
Gegenparthei denſelben zugeſtand, oder daß Zeugen bei Begrün-
dung deſſelben gegenwärtig geweſen waren — hier lag keine
Rechtsfrage vor, ſondern es bedurfte nur der Exekution — und
ſodann in §. 12 den Fall, wo dieſer Anſpruch ein zweifelhafter
war — hier bedurfte es, um der Selbſthülfe des Berechtigten
die ſichere Ausſicht auf Erfolg zu gewähren, zunächſt eines Mit-
tels, wodurch ſein Recht außer Frage geſtellt ward.

Die Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines
zweifelloſen Anſpruches
.

Bei einem Delikt hängt es vom Zufall ab, ob Zeugen ge-
genwärtig ſind, bei Rechtsgeſchäften hingegen können dieſelben
ſtets hinzugezogen werden. Dieſer Unterſchied iſt für den Ge-
ſichtspunkt, von dem wir uns hier leiten laſſen, dem der Zweifel-
loſigkeit des Anſpruches, von Einfluß und veranlaßt uns, die
Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines begangenen Delikts — die
Privatrache — von der Selbſthülfe in ihrer Richtung auf ver-
mögensrechtliche Anſprüche zu ſondern. So innerlich verſchie-
den uns beide Fälle der Selbſthülfe erſcheinen mögen, ſo wenig
hat in älteſter Zeit ein Gegenſatz zwiſchen ihnen beſtanden. Beide
umfaßt gemeinſam der Ausdruck vindicta; nicht in ſeiner ſpä-
teren Bedeutung, 27) in der er ſich nur auf die Rache bezieht,
ſondern in ſeinem urſprünglichen Sinn, wie derſelbe noch in

27) Die z. B. in den actiones vindictam spirantes des ſpätern Rechts
hervortritt.
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[121/0139] I. Prinzip des ſubj. Willens — Syſtem der Selbſthülfe. §. 11. Schuldner die Selbſthülfe des Gläubigers zu provociren, da, die Evidenz des gegneriſchen Anſpruches vorausgeſetzt, die Er- folgloſigkeit des eignen Widerſtandes vorauszuſehen war? Nur bei Zweifelhaftigkeit dieſes Anſpruches lohnte es ſich der Mühe und dies, werden wir ſehen, iſt gerade der Punkt, wo die Ent- ſtehung des Richteramtes ergänzend in das Syſtem der Selbſt- hülfe eingreift. Wir werden nun bei der folgenden Darſtellung zunächſt den Fall ins Auge faſſen, wo der durch Selbſthülfe geltend zu machende Anſpruch ein zweifelloſer war, ſei es daß die Gegenparthei denſelben zugeſtand, oder daß Zeugen bei Begrün- dung deſſelben gegenwärtig geweſen waren — hier lag keine Rechtsfrage vor, ſondern es bedurfte nur der Exekution — und ſodann in §. 12 den Fall, wo dieſer Anſpruch ein zweifelhafter war — hier bedurfte es, um der Selbſthülfe des Berechtigten die ſichere Ausſicht auf Erfolg zu gewähren, zunächſt eines Mit- tels, wodurch ſein Recht außer Frage geſtellt ward. Die Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines zweifelloſen Anſpruches. Bei einem Delikt hängt es vom Zufall ab, ob Zeugen ge- genwärtig ſind, bei Rechtsgeſchäften hingegen können dieſelben ſtets hinzugezogen werden. Dieſer Unterſchied iſt für den Ge- ſichtspunkt, von dem wir uns hier leiten laſſen, dem der Zweifel- loſigkeit des Anſpruches, von Einfluß und veranlaßt uns, die Selbſthülfe unter Vorausſetzung eines begangenen Delikts — die Privatrache — von der Selbſthülfe in ihrer Richtung auf ver- mögensrechtliche Anſprüche zu ſondern. So innerlich verſchie- den uns beide Fälle der Selbſthülfe erſcheinen mögen, ſo wenig hat in älteſter Zeit ein Gegenſatz zwiſchen ihnen beſtanden. Beide umfaßt gemeinſam der Ausdruck vindicta; nicht in ſeiner ſpä- teren Bedeutung, 27) in der er ſich nur auf die Rache bezieht, ſondern in ſeinem urſprünglichen Sinn, wie derſelbe noch in 27) Die z. B. in den actiones vindictam spirantes des ſpätern Rechts hervortritt.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/139>, abgerufen am 24.11.2024.