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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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I. Prinzip des subj. Willens -- System der Selbsthülfe. §. 11.
je mehr der Verlauf der Darstellung uns Gelegenheit geben
wird, Spuren aus der historischen Zeit in sie aufzunehmen, um
so mehr wird hoffentlich jener Schein verschwinden. Es würde
die Anschaulichkeit der Darstellung darunter leiden, wenn wir
gleich von vornherein mit Beweisen beginnen wollten; die Be-
weiskraft ruht im Gesammtzusammenhange. Vorläufig betrachte
man also den Punkt, von dem wir ausgehen, als ein hypothe-
tisches Centrum, dessen Richtigkeit erst hinterher dadurch erwie-
sen wird, daß sämmtliche einzelne historisch noch erkennbare
Punkte der Peripherie sich zu einem Kreise zusammenfügen, der
auf jenes Centrum hinweist.


Wir versetzen uns jetzt im Geist in eine Zeit hinein, in der
die Gemeinschaft noch keine Organe für die Verwirklichung des
Rechts aus sich hervorgetrieben hatte, es vielmehr als reine
Privatsache der Individuen betrachtete, sich Recht zu verschaffen.
Ein solcher Zustand hat bestanden; ob er der Zeit nach lange
vor das System der XII Tafeln fällt und selbst weit über Rom
hinausreicht, das ist Nebensache, die Hauptsache ist die, daß er
im wesentlichen wenig von dem zu dieser spätern Zeit Statt
findenden verschieden ist, wie dies nachher gezeigt werden soll.

Nicht aber der Zufall herrschte hier statt des Rechts, nicht
das Maß der den beiden streitenden Partheien zu Gebote stehen-
den physischen Macht gab den Ausschlag, sondern die Idee des
Rechts verwirklichte sich hier, wenn auch auf formlose Weise
und ohne Mitwirkung des Staats, durch die unmittelbare Macht
des Lebens. Wer wegen erlittenen Unrechts zur Selbsthülfe
schreiten wollte, war nicht auf seine eigne geringe Kraft ange-
wiesen, sondern jenes Unrecht rief in der Gemeinschaft dieselbe
Reaction des Rechtsgefühls hervor, wie in ihm selbst, nämlich
eine thätige, reelle; er fand Beistand so viel er dessen bedurfte,

I. Prinzip des ſubj. Willens — Syſtem der Selbſthülfe. §. 11.
je mehr der Verlauf der Darſtellung uns Gelegenheit geben
wird, Spuren aus der hiſtoriſchen Zeit in ſie aufzunehmen, um
ſo mehr wird hoffentlich jener Schein verſchwinden. Es würde
die Anſchaulichkeit der Darſtellung darunter leiden, wenn wir
gleich von vornherein mit Beweiſen beginnen wollten; die Be-
weiskraft ruht im Geſammtzuſammenhange. Vorläufig betrachte
man alſo den Punkt, von dem wir ausgehen, als ein hypothe-
tiſches Centrum, deſſen Richtigkeit erſt hinterher dadurch erwie-
ſen wird, daß ſämmtliche einzelne hiſtoriſch noch erkennbare
Punkte der Peripherie ſich zu einem Kreiſe zuſammenfügen, der
auf jenes Centrum hinweiſt.


Wir verſetzen uns jetzt im Geiſt in eine Zeit hinein, in der
die Gemeinſchaft noch keine Organe für die Verwirklichung des
Rechts aus ſich hervorgetrieben hatte, es vielmehr als reine
Privatſache der Individuen betrachtete, ſich Recht zu verſchaffen.
Ein ſolcher Zuſtand hat beſtanden; ob er der Zeit nach lange
vor das Syſtem der XII Tafeln fällt und ſelbſt weit über Rom
hinausreicht, das iſt Nebenſache, die Hauptſache iſt die, daß er
im weſentlichen wenig von dem zu dieſer ſpätern Zeit Statt
findenden verſchieden iſt, wie dies nachher gezeigt werden ſoll.

Nicht aber der Zufall herrſchte hier ſtatt des Rechts, nicht
das Maß der den beiden ſtreitenden Partheien zu Gebote ſtehen-
den phyſiſchen Macht gab den Ausſchlag, ſondern die Idee des
Rechts verwirklichte ſich hier, wenn auch auf formloſe Weiſe
und ohne Mitwirkung des Staats, durch die unmittelbare Macht
des Lebens. Wer wegen erlittenen Unrechts zur Selbſthülfe
ſchreiten wollte, war nicht auf ſeine eigne geringe Kraft ange-
wieſen, ſondern jenes Unrecht rief in der Gemeinſchaft dieſelbe
Reaction des Rechtsgefühls hervor, wie in ihm ſelbſt, nämlich
eine thätige, reelle; er fand Beiſtand ſo viel er deſſen bedurfte,

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[119/0137] I. Prinzip des ſubj. Willens — Syſtem der Selbſthülfe. §. 11. je mehr der Verlauf der Darſtellung uns Gelegenheit geben wird, Spuren aus der hiſtoriſchen Zeit in ſie aufzunehmen, um ſo mehr wird hoffentlich jener Schein verſchwinden. Es würde die Anſchaulichkeit der Darſtellung darunter leiden, wenn wir gleich von vornherein mit Beweiſen beginnen wollten; die Be- weiskraft ruht im Geſammtzuſammenhange. Vorläufig betrachte man alſo den Punkt, von dem wir ausgehen, als ein hypothe- tiſches Centrum, deſſen Richtigkeit erſt hinterher dadurch erwie- ſen wird, daß ſämmtliche einzelne hiſtoriſch noch erkennbare Punkte der Peripherie ſich zu einem Kreiſe zuſammenfügen, der auf jenes Centrum hinweiſt. Wir verſetzen uns jetzt im Geiſt in eine Zeit hinein, in der die Gemeinſchaft noch keine Organe für die Verwirklichung des Rechts aus ſich hervorgetrieben hatte, es vielmehr als reine Privatſache der Individuen betrachtete, ſich Recht zu verſchaffen. Ein ſolcher Zuſtand hat beſtanden; ob er der Zeit nach lange vor das Syſtem der XII Tafeln fällt und ſelbſt weit über Rom hinausreicht, das iſt Nebenſache, die Hauptſache iſt die, daß er im weſentlichen wenig von dem zu dieſer ſpätern Zeit Statt findenden verſchieden iſt, wie dies nachher gezeigt werden ſoll. Nicht aber der Zufall herrſchte hier ſtatt des Rechts, nicht das Maß der den beiden ſtreitenden Partheien zu Gebote ſtehen- den phyſiſchen Macht gab den Ausſchlag, ſondern die Idee des Rechts verwirklichte ſich hier, wenn auch auf formloſe Weiſe und ohne Mitwirkung des Staats, durch die unmittelbare Macht des Lebens. Wer wegen erlittenen Unrechts zur Selbſthülfe ſchreiten wollte, war nicht auf ſeine eigne geringe Kraft ange- wieſen, ſondern jenes Unrecht rief in der Gemeinſchaft dieſelbe Reaction des Rechtsgefühls hervor, wie in ihm ſelbſt, nämlich eine thätige, reelle; er fand Beiſtand ſo viel er deſſen bedurfte,

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/137>, abgerufen am 22.11.2024.