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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
völlig freien Lauf lassen, und Sieg begründet das Recht. Auch
gegen die Genossen ist Gewalt erlaubt, sobald sie die Person
oder den Besitz des andern kränken; durch Selbsthülfe verschafft
man sich das Verlorne wieder, ist dies aber unmöglich, so kühlt
man wenigstens die Rachlust.

Dies sind die Umrisse einer rohen Rechtsanschauung, von
der die Römer oder ihre Vorfahren nicht bloß einmal ausgegan-
gen sind, um sie dann zu vergessen, sondern die wenn auch in
verfeinerter und veredelter Gestalt sich stets bei ihnen erhielt.
Der persönlichen Thatkraft gehört die Welt, in sich selbst trägt
der Einzelne den Grund seines Rechts, durch sich selbst muß er
es schützen, das ist die Quintessenz altrömischer Lebensanschau-
ung, wie wir jetzt näher nachweisen wollen, indem wir die
Spuren, die Recht, Mythe und Etymologie uns aufbewahrt
haben, zusammenstellen.

Mit dem Schwerte ist die römische Welt gegründet, und
das Schwert oder der Speer ist das älteste Symbol des römi-
schen Rechts. Nicht die Götter gaben den Römern ihre erste
Ausstattung, wie einst der Gott Israels den Juden das gelobte
Land verlieh, nicht Kauf und List wurden angewandt, wie einst
von Dido bei der Gründung Karthagos; nein die Römer haben
kein "abgeleitetes" Eigenthum im Sinne der Rechtssprache,
abgeleitet von Gott oder andern Menschen, sondern sie haben
ein "ursprüngliches," bei dem der Eigenthümer sein eigner Auctor
ist, sie haben es sich genommen, wo sie es fanden. Leicht aber
war dieser Erwerb nicht. Die lateinische Sprache wirft hier ein
beachtenswerthes Streiflicht auf unsern Gegenstand. Hoch
stellte die römische Vorstellungsweise die äußern Glücksgüter,
bona, divitiae, denn die Sprache bezeichnet dieselben als etwas
Göttliches. 10) Aber nicht war es die Glücksgöttin, die "Glücks-

10) Bona und divitiae stammen beide von einer Wurzel, so unkenntlich
hier auch die äußere Aehnlichkeit geworden ist. Wer sich des weitern belehren
will, den verweise ich auf Pott a. a. O. B. 1 S. 101 u. fl. u. S. 265.
Hinsichtlich divitiae liegt der Zusammenhang mit div-us, deus u. s. w. auf

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
völlig freien Lauf laſſen, und Sieg begründet das Recht. Auch
gegen die Genoſſen iſt Gewalt erlaubt, ſobald ſie die Perſon
oder den Beſitz des andern kränken; durch Selbſthülfe verſchafft
man ſich das Verlorne wieder, iſt dies aber unmöglich, ſo kühlt
man wenigſtens die Rachluſt.

Dies ſind die Umriſſe einer rohen Rechtsanſchauung, von
der die Römer oder ihre Vorfahren nicht bloß einmal ausgegan-
gen ſind, um ſie dann zu vergeſſen, ſondern die wenn auch in
verfeinerter und veredelter Geſtalt ſich ſtets bei ihnen erhielt.
Der perſönlichen Thatkraft gehört die Welt, in ſich ſelbſt trägt
der Einzelne den Grund ſeines Rechts, durch ſich ſelbſt muß er
es ſchützen, das iſt die Quinteſſenz altrömiſcher Lebensanſchau-
ung, wie wir jetzt näher nachweiſen wollen, indem wir die
Spuren, die Recht, Mythe und Etymologie uns aufbewahrt
haben, zuſammenſtellen.

Mit dem Schwerte iſt die römiſche Welt gegründet, und
das Schwert oder der Speer iſt das älteſte Symbol des römi-
ſchen Rechts. Nicht die Götter gaben den Römern ihre erſte
Ausſtattung, wie einſt der Gott Israels den Juden das gelobte
Land verlieh, nicht Kauf und Liſt wurden angewandt, wie einſt
von Dido bei der Gründung Karthagos; nein die Römer haben
kein „abgeleitetes“ Eigenthum im Sinne der Rechtsſprache,
abgeleitet von Gott oder andern Menſchen, ſondern ſie haben
ein „urſprüngliches,“ bei dem der Eigenthümer ſein eigner Auctor
iſt, ſie haben es ſich genommen, wo ſie es fanden. Leicht aber
war dieſer Erwerb nicht. Die lateiniſche Sprache wirft hier ein
beachtenswerthes Streiflicht auf unſern Gegenſtand. Hoch
ſtellte die römiſche Vorſtellungsweiſe die äußern Glücksgüter,
bona, divitiae, denn die Sprache bezeichnet dieſelben als etwas
Göttliches. 10) Aber nicht war es die Glücksgöttin, die „Glücks-

10) Bona und divitiae ſtammen beide von einer Wurzel, ſo unkenntlich
hier auch die äußere Aehnlichkeit geworden iſt. Wer ſich des weitern belehren
will, den verweiſe ich auf Pott a. a. O. B. 1 S. 101 u. fl. u. S. 265.
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[106/0124] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. völlig freien Lauf laſſen, und Sieg begründet das Recht. Auch gegen die Genoſſen iſt Gewalt erlaubt, ſobald ſie die Perſon oder den Beſitz des andern kränken; durch Selbſthülfe verſchafft man ſich das Verlorne wieder, iſt dies aber unmöglich, ſo kühlt man wenigſtens die Rachluſt. Dies ſind die Umriſſe einer rohen Rechtsanſchauung, von der die Römer oder ihre Vorfahren nicht bloß einmal ausgegan- gen ſind, um ſie dann zu vergeſſen, ſondern die wenn auch in verfeinerter und veredelter Geſtalt ſich ſtets bei ihnen erhielt. Der perſönlichen Thatkraft gehört die Welt, in ſich ſelbſt trägt der Einzelne den Grund ſeines Rechts, durch ſich ſelbſt muß er es ſchützen, das iſt die Quinteſſenz altrömiſcher Lebensanſchau- ung, wie wir jetzt näher nachweiſen wollen, indem wir die Spuren, die Recht, Mythe und Etymologie uns aufbewahrt haben, zuſammenſtellen. Mit dem Schwerte iſt die römiſche Welt gegründet, und das Schwert oder der Speer iſt das älteſte Symbol des römi- ſchen Rechts. Nicht die Götter gaben den Römern ihre erſte Ausſtattung, wie einſt der Gott Israels den Juden das gelobte Land verlieh, nicht Kauf und Liſt wurden angewandt, wie einſt von Dido bei der Gründung Karthagos; nein die Römer haben kein „abgeleitetes“ Eigenthum im Sinne der Rechtsſprache, abgeleitet von Gott oder andern Menſchen, ſondern ſie haben ein „urſprüngliches,“ bei dem der Eigenthümer ſein eigner Auctor iſt, ſie haben es ſich genommen, wo ſie es fanden. Leicht aber war dieſer Erwerb nicht. Die lateiniſche Sprache wirft hier ein beachtenswerthes Streiflicht auf unſern Gegenſtand. Hoch ſtellte die römiſche Vorſtellungsweiſe die äußern Glücksgüter, bona, divitiae, denn die Sprache bezeichnet dieſelben als etwas Göttliches. 10) Aber nicht war es die Glücksgöttin, die „Glücks- 10) Bona und divitiae ſtammen beide von einer Wurzel, ſo unkenntlich hier auch die äußere Aehnlichkeit geworden iſt. Wer ſich des weitern belehren will, den verweiſe ich auf Pott a. a. O. B. 1 S. 101 u. fl. u. S. 265. Hinſichtlich divitiae liegt der Zuſammenhang mit div-us, deus u. ſ. w. auf

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/124>, abgerufen am 22.11.2024.