Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
sondern mit der Idee, daß es irgend einmal keinen Staat gegeben habe.
Mit dieser Idee wollen wir an unsere Aufgabe treten, also hinsichtlich des ältesten römischen Staats und Rechts uns be- wußt zu werden 'suchen, wie weit sie sich bereits von jenem ab- soluten Ausgangspunkt der Geschichte, dem Individuum oder der Gemeinschaft der Individuen entfernt haben, und in welchen Punkten sie noch die Spuren dieses Ausgangspunktes an sich tragen. Mögen uns dabei Mißgriffe unvermeidlich sein: ich halte es für richtiger und lehrreicher, von der Voraussetzung auszugehn, daß die Geschichte mit unendlich wenig angefangen habe, und demgemäß den Versuch zu machen, die ersten Gebilde, die innerhalb ihrer für uns sichtbar werden, an ein sichtliches Minimum anzuknüpfen, als sich mit der ge- gebenen Thatsache des Staats und Rechts zu beruhigen und unter dem Einfluß einer gereiften Rechts- und Staatsverfassung den sittlichen Gehalt jener Bildungen zu überschätzen -- ein Fehler, den man sich dem älteren römischen Recht gegenüber vielfältig hat zu Schulden kommen lassen.
Was nun den Plan der folgenden Darstellung anbetrifft, so ordne ich den Stoff, den die Geschichte uns hinsichtlich des älte- sten Rechts darbietet, nach drei Gesichtspunkten oder Prinzipien und werde versuchen Rechenschaft darüber zu geben, was jedes derselben zu dem Bau der römischen sittlichen Welt beigesteuert hat. Es sind dies jene bereits im vorigen Paragraphen erwähn- ten Prinzipien, nämlich:
I. Das des rein subjektiven Rechts, beruhend auf der Idee, daß das Individuum den Grund seines Rechts in sich selber, in seinem Rechtsgefühl und seiner Thatkraft trägt und hinsicht- lich der Verwirklichung desselben auf sich selbst und seine eigne Kraft angewiesen ist. Diese Idee ist in meinen Augen der durch Rückschlüsse zu ermittelnde, äußerste Ausgangspunkt des römi- schen Rechts, und die beiden folgenden Prinzipien haben jene
Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ſondern mit der Idee, daß es irgend einmal keinen Staat gegeben habe.
Mit dieſer Idee wollen wir an unſere Aufgabe treten, alſo hinſichtlich des älteſten römiſchen Staats und Rechts uns be- wußt zu werden 'ſuchen, wie weit ſie ſich bereits von jenem ab- ſoluten Ausgangspunkt der Geſchichte, dem Individuum oder der Gemeinſchaft der Individuen entfernt haben, und in welchen Punkten ſie noch die Spuren dieſes Ausgangspunktes an ſich tragen. Mögen uns dabei Mißgriffe unvermeidlich ſein: ich halte es für richtiger und lehrreicher, von der Vorausſetzung auszugehn, daß die Geſchichte mit unendlich wenig angefangen habe, und demgemäß den Verſuch zu machen, die erſten Gebilde, die innerhalb ihrer für uns ſichtbar werden, an ein ſichtliches Minimum anzuknüpfen, als ſich mit der ge- gebenen Thatſache des Staats und Rechts zu beruhigen und unter dem Einfluß einer gereiften Rechts- und Staatsverfaſſung den ſittlichen Gehalt jener Bildungen zu überſchätzen — ein Fehler, den man ſich dem älteren römiſchen Recht gegenüber vielfältig hat zu Schulden kommen laſſen.
Was nun den Plan der folgenden Darſtellung anbetrifft, ſo ordne ich den Stoff, den die Geſchichte uns hinſichtlich des älte- ſten Rechts darbietet, nach drei Geſichtspunkten oder Prinzipien und werde verſuchen Rechenſchaft darüber zu geben, was jedes derſelben zu dem Bau der römiſchen ſittlichen Welt beigeſteuert hat. Es ſind dies jene bereits im vorigen Paragraphen erwähn- ten Prinzipien, nämlich:
I. Das des rein ſubjektiven Rechts, beruhend auf der Idee, daß das Individuum den Grund ſeines Rechts in ſich ſelber, in ſeinem Rechtsgefühl und ſeiner Thatkraft trägt und hinſicht- lich der Verwirklichung deſſelben auf ſich ſelbſt und ſeine eigne Kraft angewieſen iſt. Dieſe Idee iſt in meinen Augen der durch Rückſchlüſſe zu ermittelnde, äußerſte Ausgangspunkt des römi- ſchen Rechts, und die beiden folgenden Prinzipien haben jene
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Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ſondern mit der Idee, daß es irgend einmal keinen
Staat gegeben habe.
Mit dieſer Idee wollen wir an unſere Aufgabe treten, alſo
hinſichtlich des älteſten römiſchen Staats und Rechts uns be-
wußt zu werden 'ſuchen, wie weit ſie ſich bereits von jenem ab-
ſoluten Ausgangspunkt der Geſchichte, dem Individuum oder
der Gemeinſchaft der Individuen entfernt haben, und in welchen
Punkten ſie noch die Spuren dieſes Ausgangspunktes an ſich
tragen. Mögen uns dabei Mißgriffe unvermeidlich ſein: ich
halte es für richtiger und lehrreicher, von der Vorausſetzung
auszugehn, daß die Geſchichte mit unendlich wenig
angefangen habe, und demgemäß den Verſuch zu machen,
die erſten Gebilde, die innerhalb ihrer für uns ſichtbar werden,
an ein ſichtliches Minimum anzuknüpfen, als ſich mit der ge-
gebenen Thatſache des Staats und Rechts zu beruhigen und
unter dem Einfluß einer gereiften Rechts- und Staatsverfaſſung
den ſittlichen Gehalt jener Bildungen zu überſchätzen — ein
Fehler, den man ſich dem älteren römiſchen Recht gegenüber
vielfältig hat zu Schulden kommen laſſen.
Was nun den Plan der folgenden Darſtellung anbetrifft, ſo
ordne ich den Stoff, den die Geſchichte uns hinſichtlich des älte-
ſten Rechts darbietet, nach drei Geſichtspunkten oder Prinzipien
und werde verſuchen Rechenſchaft darüber zu geben, was jedes
derſelben zu dem Bau der römiſchen ſittlichen Welt beigeſteuert
hat. Es ſind dies jene bereits im vorigen Paragraphen erwähn-
ten Prinzipien, nämlich:
I. Das des rein ſubjektiven Rechts, beruhend auf der Idee,
daß das Individuum den Grund ſeines Rechts in ſich ſelber,
in ſeinem Rechtsgefühl und ſeiner Thatkraft trägt und hinſicht-
lich der Verwirklichung deſſelben auf ſich ſelbſt und ſeine eigne
Kraft angewieſen iſt. Dieſe Idee iſt in meinen Augen der durch
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ſchen Rechts, und die beiden folgenden Prinzipien haben jene
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/120>, abgerufen am 16.02.2025.
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