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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Das Charakteristische der römischen Kosmogonie. §. 8.

Gewöhnlich liebt es die Sage, die Bildungen einer relativ
spätern Zeit in eine weite Ferne, in eine dunkle, ungekannte
Vorzeit zu verlegen, das Menschenwerk und natürliche Erzeug-
niß einheimischer Geschichte als das Geschenk der Götter hinzu-
stellen und die älteste Zeit als das goldne Zeitalter zu bezeich-
nen, in dem die Götter selbst unter den Menschen wandelten.
Aber von alle dem findet sich in der römischen Sage nichts.
Rom selbst hat keine Vorzeit gehabt, die der Sage als mysti-
scher Hintergrund diente, Rom bildet den Rahmen, der die
ganze römische Welt einschließt. 7) Alles, was Rom ist, erwirbt
und leistet, verdankt es sich selbst und seiner Kraft; alles wird
gemacht und organisirt, in allem ist Planmäßigkeit, Absicht,
Berechnung. Nichts bildet sich von selbst, nicht einmal die Gen-
tes, die doch das unmittelbarste Produkt des natürlichen Wachs-
thums der Familien sind, nicht das Recht, das doch größten-
theils aus der Sitte hervorgeht. Nichts wird von außen ent-
lehnt mit Ausnahme des Völkerrechts; Staat, Recht, Religion,
alles producirt Rom aus sich heraus.

Dies ist also ein Grundzug der römischen Anschauung: Rom
hat nichts von außen entlehnt, und was in Rom sich gebildet
hat, das verdankt Rom sich selbst und ist mit Bewußtsein
und Absicht eingerichtet.

7) Ein interessantes Seitenstück zu dem folgenden giebt uns auch der
religiöse Mythus in seiner Sage von der Entwendung der Kühe des Herkules
(Liv. I. c. 7). Es ist dies nichts, als die indische Sage von den Kühen des
Indras, und der in letzterer vorkommende Sarameyas der griechische Ermeias,
Ermes, wie Kuhn in der Zeitschrift für deutsches Alterthum von Haupt B. 6
S. 118 u. f. trefflich nachgewiesen hat, aber Griechen wie Römer verlegen
jene Sage, mit der Kuhn auch die altgermanische Mythologie in Beziehung
gesetzt hat, nach ihrer eignen Heimath. Die vergleichende Mythologie der
indogermanischen Völker wird gewiß noch in einer Menge von religiösen My-
then und Gebräuchen die ursprüngliche Gemeinsamkeit jener Völker nachwei-
sen, die letztern selbst so sehr entschwand, daß sie jenes gemeinsame Besitz-
thum als etwas ihnen ganz eigenthümliches betrachteten und es in ihren Tra-
ditionen daheim entstehen ließen.
Das Charakteriſtiſche der römiſchen Kosmogonie. §. 8.

Gewöhnlich liebt es die Sage, die Bildungen einer relativ
ſpätern Zeit in eine weite Ferne, in eine dunkle, ungekannte
Vorzeit zu verlegen, das Menſchenwerk und natürliche Erzeug-
niß einheimiſcher Geſchichte als das Geſchenk der Götter hinzu-
ſtellen und die älteſte Zeit als das goldne Zeitalter zu bezeich-
nen, in dem die Götter ſelbſt unter den Menſchen wandelten.
Aber von alle dem findet ſich in der römiſchen Sage nichts.
Rom ſelbſt hat keine Vorzeit gehabt, die der Sage als myſti-
ſcher Hintergrund diente, Rom bildet den Rahmen, der die
ganze römiſche Welt einſchließt. 7) Alles, was Rom iſt, erwirbt
und leiſtet, verdankt es ſich ſelbſt und ſeiner Kraft; alles wird
gemacht und organiſirt, in allem iſt Planmäßigkeit, Abſicht,
Berechnung. Nichts bildet ſich von ſelbſt, nicht einmal die Gen-
tes, die doch das unmittelbarſte Produkt des natürlichen Wachs-
thums der Familien ſind, nicht das Recht, das doch größten-
theils aus der Sitte hervorgeht. Nichts wird von außen ent-
lehnt mit Ausnahme des Völkerrechts; Staat, Recht, Religion,
alles producirt Rom aus ſich heraus.

Dies iſt alſo ein Grundzug der römiſchen Anſchauung: Rom
hat nichts von außen entlehnt, und was in Rom ſich gebildet
hat, das verdankt Rom ſich ſelbſt und iſt mit Bewußtſein
und Abſicht eingerichtet.

7) Ein intereſſantes Seitenſtück zu dem folgenden giebt uns auch der
religiöſe Mythus in ſeiner Sage von der Entwendung der Kühe des Herkules
(Liv. I. c. 7). Es iſt dies nichts, als die indiſche Sage von den Kühen des
Indras, und der in letzterer vorkommende Sarameyas der griechiſche Ἑϱμείας,
Ἑϱμῆς, wie Kuhn in der Zeitſchrift für deutſches Alterthum von Haupt B. 6
S. 118 u. f. trefflich nachgewieſen hat, aber Griechen wie Römer verlegen
jene Sage, mit der Kuhn auch die altgermaniſche Mythologie in Beziehung
geſetzt hat, nach ihrer eignen Heimath. Die vergleichende Mythologie der
indogermaniſchen Völker wird gewiß noch in einer Menge von religiöſen My-
then und Gebräuchen die urſprüngliche Gemeinſamkeit jener Völker nachwei-
ſen, die letztern ſelbſt ſo ſehr entſchwand, daß ſie jenes gemeinſame Beſitz-
thum als etwas ihnen ganz eigenthümliches betrachteten und es in ihren Tra-
ditionen daheim entſtehen ließen.
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[93/0111] Das Charakteriſtiſche der römiſchen Kosmogonie. §. 8. Gewöhnlich liebt es die Sage, die Bildungen einer relativ ſpätern Zeit in eine weite Ferne, in eine dunkle, ungekannte Vorzeit zu verlegen, das Menſchenwerk und natürliche Erzeug- niß einheimiſcher Geſchichte als das Geſchenk der Götter hinzu- ſtellen und die älteſte Zeit als das goldne Zeitalter zu bezeich- nen, in dem die Götter ſelbſt unter den Menſchen wandelten. Aber von alle dem findet ſich in der römiſchen Sage nichts. Rom ſelbſt hat keine Vorzeit gehabt, die der Sage als myſti- ſcher Hintergrund diente, Rom bildet den Rahmen, der die ganze römiſche Welt einſchließt. 7) Alles, was Rom iſt, erwirbt und leiſtet, verdankt es ſich ſelbſt und ſeiner Kraft; alles wird gemacht und organiſirt, in allem iſt Planmäßigkeit, Abſicht, Berechnung. Nichts bildet ſich von ſelbſt, nicht einmal die Gen- tes, die doch das unmittelbarſte Produkt des natürlichen Wachs- thums der Familien ſind, nicht das Recht, das doch größten- theils aus der Sitte hervorgeht. Nichts wird von außen ent- lehnt mit Ausnahme des Völkerrechts; Staat, Recht, Religion, alles producirt Rom aus ſich heraus. Dies iſt alſo ein Grundzug der römiſchen Anſchauung: Rom hat nichts von außen entlehnt, und was in Rom ſich gebildet hat, das verdankt Rom ſich ſelbſt und iſt mit Bewußtſein und Abſicht eingerichtet. 7) Ein intereſſantes Seitenſtück zu dem folgenden giebt uns auch der religiöſe Mythus in ſeiner Sage von der Entwendung der Kühe des Herkules (Liv. I. c. 7). Es iſt dies nichts, als die indiſche Sage von den Kühen des Indras, und der in letzterer vorkommende Sarameyas der griechiſche Ἑϱμείας, Ἑϱμῆς, wie Kuhn in der Zeitſchrift für deutſches Alterthum von Haupt B. 6 S. 118 u. f. trefflich nachgewieſen hat, aber Griechen wie Römer verlegen jene Sage, mit der Kuhn auch die altgermaniſche Mythologie in Beziehung geſetzt hat, nach ihrer eignen Heimath. Die vergleichende Mythologie der indogermaniſchen Völker wird gewiß noch in einer Menge von religiöſen My- then und Gebräuchen die urſprüngliche Gemeinſamkeit jener Völker nachwei- ſen, die letztern ſelbſt ſo ſehr entſchwand, daß ſie jenes gemeinſame Beſitz- thum als etwas ihnen ganz eigenthümliches betrachteten und es in ihren Tra- ditionen daheim entſtehen ließen.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/111>, abgerufen am 22.11.2024.