Urzustände -- Erinnerungsvermögen des römischen Volks -- Ergänzung der Tradition durch Etymologie und Rückschlüsse vom spätern Recht. --
VII. Die Urzustände der Völker, die ersten Anfänge der Rechts- und Staaten-Bildung haben ein sehr hohes culturhisto- risches Interesse. Der Reiz, den sie auf den Historiker ausüben, und der ihn trotz aller Mühseligkeit der Aufgabe immer wieder zu ihnen zurückführt, ist derselbe, den das erste Erwachen des Geistes im Kinde für den Psychologen hat. Beide lockt zur Beobachtung dieselbe Aussicht, die Aussicht nämlich den schaffen- den Weltgeist in seiner Werkstätte zu belauschen und in das Ge- heimniß des Werdens einzudringen. Aber die Lage des Histo- rikers ist ungleich ungünstiger, denn während der Psycholog jenes Erwachen des Geistes täglich vor Augen hat, reicht das Erwachen aller historischen Völker in eine weite Vergangenheit hinauf, und aus Mittheilungen von sehr trügerischer und unvoll- kommner Beschaffenheit soll der Historiker sich erst die Kenntniß derselben entnehmen. Nicht die Kürze oder Länge der Zeit, die Reihe der Jahrhunderte oder Jahrtausende ist es, die dies Zu- rückgehen auf die historischen Anfänge leichter oder schwieriger macht, sondern die nach Verschiedenheit der Völker geringere oder höhere Treue und Stärke des nationalen Gedächtnisses.
Die Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Urzuſtände — Erinnerungsvermögen des römiſchen Volks — Ergänzung der Tradition durch Etymologie und Rückſchlüſſe vom ſpätern Recht. —
VII. Die Urzuſtände der Völker, die erſten Anfänge der Rechts- und Staaten-Bildung haben ein ſehr hohes culturhiſto- riſches Intereſſe. Der Reiz, den ſie auf den Hiſtoriker ausüben, und der ihn trotz aller Mühſeligkeit der Aufgabe immer wieder zu ihnen zurückführt, iſt derſelbe, den das erſte Erwachen des Geiſtes im Kinde für den Pſychologen hat. Beide lockt zur Beobachtung dieſelbe Ausſicht, die Ausſicht nämlich den ſchaffen- den Weltgeiſt in ſeiner Werkſtätte zu belauſchen und in das Ge- heimniß des Werdens einzudringen. Aber die Lage des Hiſto- rikers iſt ungleich ungünſtiger, denn während der Pſycholog jenes Erwachen des Geiſtes täglich vor Augen hat, reicht das Erwachen aller hiſtoriſchen Völker in eine weite Vergangenheit hinauf, und aus Mittheilungen von ſehr trügeriſcher und unvoll- kommner Beſchaffenheit ſoll der Hiſtoriker ſich erſt die Kenntniß derſelben entnehmen. Nicht die Kürze oder Länge der Zeit, die Reihe der Jahrhunderte oder Jahrtauſende iſt es, die dies Zu- rückgehen auf die hiſtoriſchen Anfänge leichter oder ſchwieriger macht, ſondern die nach Verſchiedenheit der Völker geringere oder höhere Treue und Stärke des nationalen Gedächtniſſes.
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[[85]/0103]
Die Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
Urzuſtände — Erinnerungsvermögen des römiſchen Volks —
Ergänzung der Tradition durch Etymologie und Rückſchlüſſe
vom ſpätern Recht. —
VII. Die Urzuſtände der Völker, die erſten Anfänge der
Rechts- und Staaten-Bildung haben ein ſehr hohes culturhiſto-
riſches Intereſſe. Der Reiz, den ſie auf den Hiſtoriker ausüben,
und der ihn trotz aller Mühſeligkeit der Aufgabe immer wieder
zu ihnen zurückführt, iſt derſelbe, den das erſte Erwachen des
Geiſtes im Kinde für den Pſychologen hat. Beide lockt zur
Beobachtung dieſelbe Ausſicht, die Ausſicht nämlich den ſchaffen-
den Weltgeiſt in ſeiner Werkſtätte zu belauſchen und in das Ge-
heimniß des Werdens einzudringen. Aber die Lage des Hiſto-
rikers iſt ungleich ungünſtiger, denn während der Pſycholog
jenes Erwachen des Geiſtes täglich vor Augen hat, reicht das
Erwachen aller hiſtoriſchen Völker in eine weite Vergangenheit
hinauf, und aus Mittheilungen von ſehr trügeriſcher und unvoll-
kommner Beſchaffenheit ſoll der Hiſtoriker ſich erſt die Kenntniß
derſelben entnehmen. Nicht die Kürze oder Länge der Zeit, die
Reihe der Jahrhunderte oder Jahrtauſende iſt es, die dies Zu-
rückgehen auf die hiſtoriſchen Anfänge leichter oder ſchwieriger
macht, ſondern die nach Verſchiedenheit der Völker geringere
oder höhere Treue und Stärke des nationalen Gedächtniſſes.
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. [85]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/103>, abgerufen am 23.02.2025.
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