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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 8. Berlin, 1955.

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276. An Heinrich Voß in Heidelberg.

Mein geliebter Heinrich!

d. 19. Apr.

So fahr' ich fort, und schreibe meinem unvergeßlichen Voß in diesem5
Jahre erst zum ersten male. -- Nur die Hoffnung tröstet mich, daß du
durch kein Schweigen deinen Glauben an die Unveränderlichkeit meines
Herzens erschüttern lässest. Freilich ist dieses neueste mein sündlichstes, da
ich dir den Dank für das brüderliche und musterhafte Besorgen meiner
traurigen Angelegenheiten so lange schuldig blieb. Andern geb' ich10
auch auf die schönsten Briefe gar keine Antwort. In diesem Jahre
schrieb ich fast nur Geschäftbriefe. Die Hauptursache ist: Nachmittags
bin ich zu keiner schreibenden Thätigkeit recht aufgelegt; am Vor-
mittage*) aber benutz' ich sie zum Fortschieben meines Kometen, dessen
3tes Stück im Juny in deinen Händen sein wird. -- Meinen Körper15
hab' ich durch meine Heilkünste wieder zum Ertragen ächter Weine und
der Arbeit ziemlich hergebessert. -- Nun lasse mich alles durch einander
sagen.

Im Mai reis' ich nach Dresden. Aber mein Rhein und mein Kreuz-
nach sollen darum doch nicht meinem Herzen und meinen Augen ab-20
geschnitten bleiben. Ich habe jetzo das Recht, auch einmal anders zu
weinen; wenn es noch möglich ist. -- Meine Odilie ist in Würzburg
im "orthopädischen" Institut des trefflichen Heine, wegen ihres Rück-
grats, dessen Verbiegung sie bei aller übrigen Gesundheit sich durch
Kinder-Gymnastik geholt. -- Durch meine nach Basel reisende25
Schwiegermutter bring' ich dir leichter meine Mumien und Prozesse
zu. Lies ja von beiden die neuen Vorreden; wozu bei letzten noch ein
Epilog kommt. -- Hofmann, der meine Mumien-Vorrede (gegen ihn)
noch nicht gelesen, sandte mir mit vieler Preisung den 2ten Theil seines
Katers, um mich (vergeblich) zu einer Arbeittheilnahme zu bereden. --30
Der Verfasser der falschen Wanderjahre hat -- obwol als Künstler
nicht glänzend -- doch über Göthe's moralisch-anbrüchige Charaktere
vieles Recht und trifft sehr mit Herders Tischreden zusammen. Welch'
ein ganz anderes Betlehem von großen, reinen und doch wahren
Charakteren ist nicht in W. Scott's Gebärhaus, gegen Göthe's heid-35

*) wo ich eben dir schreibe.
276. An Heinrich Voß in Heidelberg.

Mein geliebter Heinrich!

d. 19. Apr.

So fahr’ ich fort, und ſchreibe meinem unvergeßlichen Voß in dieſem5
Jahre erſt zum erſten male. — Nur die Hoffnung tröſtet mich, daß du
durch kein Schweigen deinen Glauben an die Unveränderlichkeit meines
Herzens erſchüttern läſſeſt. Freilich iſt dieſes neueſte mein ſündlichſtes, da
ich dir den Dank für das brüderliche und muſterhafte Beſorgen meiner
traurigen Angelegenheiten ſo lange ſchuldig blieb. Andern geb’ ich10
auch auf die ſchönſten Briefe gar keine Antwort. In dieſem Jahre
ſchrieb ich faſt nur Geſchäftbriefe. Die Haupturſache iſt: Nachmittags
bin ich zu keiner ſchreibenden Thätigkeit recht aufgelegt; am Vor-
mittage*) aber benutz’ ich ſie zum Fortſchieben meines Kometen, deſſen
3tes Stück im Juny in deinen Händen ſein wird. — Meinen Körper15
hab’ ich durch meine Heilkünſte wieder zum Ertragen ächter Weine und
der Arbeit ziemlich hergebeſſert. — Nun laſſe mich alles durch einander
ſagen.

Im Mai reiſ’ ich nach Dresden. Aber mein Rhein und mein Kreuz-
nach ſollen darum doch nicht meinem Herzen und meinen Augen ab-20
geſchnitten bleiben. Ich habe jetzo das Recht, auch einmal anders zu
weinen; wenn es noch möglich iſt. — Meine Odilie iſt in Würzburg
im „orthopädiſchen“ Inſtitut des trefflichen Heine, wegen ihres Rück-
grats, deſſen Verbiegung ſie bei aller übrigen Geſundheit ſich durch
Kinder-Gymnaſtik geholt. — Durch meine nach Baſel reiſende25
Schwiegermutter bring’ ich dir leichter meine Mumien und Prozesse
zu. Lies ja von beiden die neuen Vorreden; wozu bei letzten noch ein
Epilog kommt. — Hofmann, der meine Mumien-Vorrede (gegen ihn)
noch nicht geleſen, ſandte mir mit vieler Preiſung den 2ten Theil ſeines
Katers, um mich (vergeblich) zu einer Arbeittheilnahme zu bereden. —30
Der Verfaſſer der falſchen Wanderjahre hat — obwol als Künſtler
nicht glänzend — doch über Göthe’s moraliſch-anbrüchige Charaktere
vieles Recht und trifft ſehr mit Herders Tiſchreden zuſammen. Welch’
ein ganz anderes Betlehem von großen, reinen und doch wahren
Charakteren iſt nicht in W. Scott’s Gebärhaus, gegen Göthe’s heid-35

*) wo ich eben dir ſchreibe.
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[164/0171] 276. An Heinrich Voß in Heidelberg. Baireut d. 22ten März 1822 Mein geliebter Heinrich! d. 19. Apr. So fahr’ ich fort, und ſchreibe meinem unvergeßlichen Voß in dieſem 5 Jahre erſt zum erſten male. — Nur die Hoffnung tröſtet mich, daß du durch kein Schweigen deinen Glauben an die Unveränderlichkeit meines Herzens erſchüttern läſſeſt. Freilich iſt dieſes neueſte mein ſündlichſtes, da ich dir den Dank für das brüderliche und muſterhafte Beſorgen meiner traurigen Angelegenheiten ſo lange ſchuldig blieb. Andern geb’ ich 10 auch auf die ſchönſten Briefe gar keine Antwort. In dieſem Jahre ſchrieb ich faſt nur Geſchäftbriefe. Die Haupturſache iſt: Nachmittags bin ich zu keiner ſchreibenden Thätigkeit recht aufgelegt; am Vor- mittage *) aber benutz’ ich ſie zum Fortſchieben meines Kometen, deſſen 3tes Stück im Juny in deinen Händen ſein wird. — Meinen Körper 15 hab’ ich durch meine Heilkünſte wieder zum Ertragen ächter Weine und der Arbeit ziemlich hergebeſſert. — Nun laſſe mich alles durch einander ſagen. Im Mai reiſ’ ich nach Dresden. Aber mein Rhein und mein Kreuz- nach ſollen darum doch nicht meinem Herzen und meinen Augen ab- 20 geſchnitten bleiben. Ich habe jetzo das Recht, auch einmal anders zu weinen; wenn es noch möglich iſt. — Meine Odilie iſt in Würzburg im „orthopädiſchen“ Inſtitut des trefflichen Heine, wegen ihres Rück- grats, deſſen Verbiegung ſie bei aller übrigen Geſundheit ſich durch Kinder-Gymnaſtik geholt. — Durch meine nach Baſel reiſende 25 Schwiegermutter bring’ ich dir leichter meine Mumien und Prozesse zu. Lies ja von beiden die neuen Vorreden; wozu bei letzten noch ein Epilog kommt. — Hofmann, der meine Mumien-Vorrede (gegen ihn) noch nicht geleſen, ſandte mir mit vieler Preiſung den 2ten Theil ſeines Katers, um mich (vergeblich) zu einer Arbeittheilnahme zu bereden. — 30 Der Verfaſſer der falſchen Wanderjahre hat — obwol als Künſtler nicht glänzend — doch über Göthe’s moraliſch-anbrüchige Charaktere vieles Recht und trifft ſehr mit Herders Tiſchreden zuſammen. Welch’ ein ganz anderes Betlehem von großen, reinen und doch wahren Charakteren iſt nicht in W. Scott’s Gebärhaus, gegen Göthe’s heid- 35 *) wo ich eben dir ſchreibe.

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:22:18Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:22:18Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 8. Berlin, 1955, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe08_1955/171>, abgerufen am 28.11.2024.