Gebräuche hätte wagen dürfen! Wohl der befreieten Seele, die sich nicht ein ganzes langes Leben hindurch in der verbaueten Hütte mit menschlichem Bewußtsein hatte martern müssen! -- Jetzo hatte sie nur thierisches und litt nur wie im Schlafe; und die Eltern erlitten in Einer Minute des wachen Zusehens mehr als das gute Kind. -- Einen Trost5 haben Sie, das arme Wesen hat von dieser dürftigen kalten Erde doch Ein Gut mitgenommen, die Unsterblichkeit; und in der ist Zeit genug für alles Beglücken. -- Gott helfe Ihnen und auch mir über den Todten- monat -- wie die Alten den Februar richtig hießen -- hinüber. Gott tröste Sie; und Sie die Mutter!10
R.
145. An Emanuel.
[Bayreuth, 20. Febr. 1821]
Guten Morgen, mein Emanuel! Hier schick ich Ihnen statt meiner etliche Briefe. Ich käme heute abends; aber der mir sehr feindliche15 Winter nöthigt mich zu einem Fußbade gegen nächtliche Zahnschmerzen und andern Kälte-Einfluß. Mögen Sie doch alle recht gesund bleiben!
146. An Max Richter in Heidelberg.
Baireut d. 20ten Febr. 1821
Mein guter Sohn! Dein den 6ten abgegangner Brief an Emma kam20 den 19ten an. -- Zeitmangel und der heutige kälteste Tag im Winter verkürzen meinen Brief. Viele Zufälle verknüpften sich zur Vergiftung des Winters. Ein Oxhofft Graves-Wein mußt' ich mit Verlust ver- tauschen, nachdem ich 24 mir schädliche Flaschen davon getrunken; aber auch das dafür eingetauschte Feuillett weißer Burgunder schlägt25 mir nicht zu. Im Herbste rieth mir mein eigner Körper-Genius ver- geblich zur Aderlaß, die einzige Hülfe gegen mein Lungenübel. Zum Glücke brachte mich die Hellseherin Kurz dazu. Am 15ten libierte ich noch 4 große Tassen 8 Unzen kräftiges derbes Drescherblut von vielem Kruor und wenig Serum dem Todtenmonat, wie die Römer den30 Februar nannten. Die Hellseherin sah mein ganzes Innere wie ich es im Siebenkäs (III p. 41) beschrieben und behauptete, daß ohne Ge- genmittel Ein Schlagfluß -- kein wiederholter -- meinen Ekel an der leeren Oberfläche Baireuts durch dessen vollere Unterfläche leicht auf
Gebräuche hätte wagen dürfen! Wohl der befreieten Seele, die ſich nicht ein ganzes langes Leben hindurch in der verbaueten Hütte mit menſchlichem Bewußtſein hatte martern müſſen! — Jetzo hatte ſie nur thieriſches und litt nur wie im Schlafe; und die Eltern erlitten in Einer Minute des wachen Zuſehens mehr als das gute Kind. — Einen Troſt5 haben Sie, das arme Weſen hat von dieſer dürftigen kalten Erde doch Ein Gut mitgenommen, die Unſterblichkeit; und in der iſt Zeit genug für alles Beglücken. — Gott helfe Ihnen und auch mir über den Todten- monat — wie die Alten den Februar richtig hießen — hinüber. Gott tröſte Sie; und Sie die Mutter!10
R.
145. An Emanuel.
[Bayreuth, 20. Febr. 1821]
Guten Morgen, mein Emanuel! Hier ſchick ich Ihnen ſtatt meiner etliche Briefe. Ich käme heute abends; aber der mir ſehr feindliche15 Winter nöthigt mich zu einem Fußbade gegen nächtliche Zahnſchmerzen und andern Kälte-Einfluß. Mögen Sie doch alle recht geſund bleiben!
146. An Max Richter in Heidelberg.
Baireut d. 20ten Febr. 1821
Mein guter Sohn! Dein den 6ten abgegangner Brief an Emma kam20 den 19ten an. — Zeitmangel und der heutige kälteſte Tag im Winter verkürzen meinen Brief. Viele Zufälle verknüpften ſich zur Vergiftung des Winters. Ein Oxhofft Graves-Wein mußt’ ich mit Verluſt ver- tauſchen, nachdem ich 24 mir ſchädliche Flaſchen davon getrunken; aber auch das dafür eingetauſchte Feuillett weißer Burgunder ſchlägt25 mir nicht zu. Im Herbſte rieth mir mein eigner Körper-Genius ver- geblich zur Aderlaß, die einzige Hülfe gegen mein Lungenübel. Zum Glücke brachte mich die Hellſeherin Kurz dazu. Am 15ten libierte ich noch 4 große Taſſen 〈8 Unzen〉 kräftiges derbes Dreſcherblut von vielem Kruor und wenig Serum dem Todtenmonat, wie die Römer den30 Februar nannten. Die Hellſeherin ſah mein ganzes Innere wie ich es im Siebenkäs (III p. 41) beſchrieben und behauptete, daß ohne Ge- genmittel Ein Schlagfluß — kein wiederholter — meinen Ekel an der leeren Oberfläche Baireuts durch deſſen vollere Unterfläche leicht auf
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Gebräuche hätte wagen dürfen! Wohl der befreieten Seele, die ſich
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thieriſches und litt nur wie im Schlafe; und die Eltern erlitten in Einer
Minute des wachen Zuſehens mehr als das gute Kind. — Einen Troſt 5
haben Sie, das arme Weſen hat von dieſer dürftigen kalten Erde doch
Ein Gut mitgenommen, die Unſterblichkeit; und in der iſt Zeit genug für
alles Beglücken. — Gott helfe Ihnen und auch mir über den Todten-
monat — wie die Alten den Februar richtig hießen — hinüber. Gott
tröſte Sie; und Sie die Mutter! 10
R.
145. An Emanuel.
[Bayreuth, 20. Febr. 1821]
Guten Morgen, mein Emanuel! Hier ſchick ich Ihnen ſtatt meiner
etliche Briefe. Ich käme heute abends; aber der mir ſehr feindliche 15
Winter nöthigt mich zu einem Fußbade gegen nächtliche Zahnſchmerzen
und andern Kälte-Einfluß. Mögen Sie doch alle recht geſund bleiben!
146. An Max Richter in Heidelberg.
Baireut d. 20ten Febr. 1821
Mein guter Sohn! Dein den 6ten abgegangner Brief an Emma kam 20
den 19ten an. — Zeitmangel und der heutige kälteſte Tag im Winter
verkürzen meinen Brief. Viele Zufälle verknüpften ſich zur Vergiftung
des Winters. Ein Oxhofft Graves-Wein mußt’ ich mit Verluſt ver-
tauſchen, nachdem ich 24 mir ſchädliche Flaſchen davon getrunken;
aber auch das dafür eingetauſchte Feuillett weißer Burgunder ſchlägt 25
mir nicht zu. Im Herbſte rieth mir mein eigner Körper-Genius ver-
geblich zur Aderlaß, die einzige Hülfe gegen mein Lungenübel. Zum
Glücke brachte mich die Hellſeherin Kurz dazu. Am 15ten libierte ich
noch 4 große Taſſen 〈8 Unzen〉 kräftiges derbes Dreſcherblut von
vielem Kruor und wenig Serum dem Todtenmonat, wie die Römer den 30
Februar nannten. Die Hellſeherin ſah mein ganzes Innere wie ich es
im Siebenkäs (III p. 41) beſchrieben und behauptete, daß ohne Ge-
genmittel Ein Schlagfluß — kein wiederholter — meinen Ekel an der
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:22:18Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:22:18Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 8. Berlin, 1955, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe08_1955/101>, abgerufen am 21.07.2024.
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