Da du mir so oft neu wirst -- du steckst, nicht säest dein Korn in mich -- mir, der ich dich nach Worten, wie den guten Haufen nach Seiten lese -- daß du folglich zuweilen dunkel sein mußt (ausge- nommen den langen Aufsatz gegen Kants Kritik): so errath' ich*), wie viel andern gut meinenden Seelen entrinnt; und der wäre5 wirklich ein Wolthäter der fromm und zu Zwecken philosophierenden Menschheit, welcher dein reines Real- und Idealsystem in gemeiner Sprache vor die gemeine Anschauung in systematischen Ketten führte und zöge aus deinen kleinen und größern und polemischen Werken; Köppen z. B. -- Aber wie konnte dieser mir einen solchen Ver-10 nichtungs-Krieg zweier Meinungen in die Seele
d. 6 März
verlegen? Hab' ich denn so wenig Konsequenz und Besonnenheit, daß ich im Raume einer Vorrede (der Vorschule) aus 2 entgegen- gesetzten Kanzeln predigen kann? Was ich am deutlichsten aus-15 gesprochen, durch Worte und Leben (denn langes Schreiben gilt Leben gleich), aus diesem sollte er sich das Dunkle erklären, nicht durch dieses jenes verfinstern. In mir ist ein unwandelbarer Ernst; wie könnt' ich sonst ewig an deinen und andern Werken so hangen? -- Der "Scherz" begehrt freilich die ganze Lehr- und Lern-Welt, aber20 nur als Ingredienz, nicht als Ziel. Ohne Ernst kenn' ich keinen Scherz, aber Ernst ohne Scherz ist denkbar und sogar ursprünglich. -- Die ganze Auflösung der Charade oder des Chronodistichons -- wenn ich eines bin -- ist die schon unter 1000 Räthsel gesetzte, daß mich eben der höhere Sinn ergreift, er mag sonst wörtlich gegen25 meinen aussprechen was er will, und daß ich mich der theilweisen Wahrheit von allen Seiten offen halte, weil mein Ich kein Tempel, Altar oder gar Repräsentant Vicegott der himmlischen Wahrheit sein kann. Eine erbärmlichere Erde gäb' es doch wahrlich nicht als eine, worauf nur 5 oder 6 Leute Recht hätten; -- wozu denn die30 andern? Wozu Wiederscheine des Wiederscheins Gottes? -- Du richtest mich selber nach meiner Regel; darum schreib' ich so hin. Die Kern-Punkte des Streits brauchen aber eine mündliche Zeit. Ich wollte, Bouterwek und Köppen hätten sich dialektisch mehr auf
*) Ich hört' es auch; nur die neuere Fichtische und Schellingsche Schule35 könnte dich, wäre sie frömmer, mit dem Kopfe mehr verstehen; aber der ältern und der kritischen bleibst du so leer dunkel wie die Nacht voll Sonnen.
6 Jean Paul Briefe. V.
Da du mir ſo oft neu wirſt — du ſteckſt, nicht ſäeſt dein Korn in mich — mir, der ich dich nach Worten, wie den guten Haufen nach Seiten leſe — daß du folglich zuweilen dunkel ſein mußt (ausge- nommen den langen Aufſatz gegen Kants Kritik): ſo errath’ ich*), wie viel andern gut meinenden Seelen entrinnt; und der wäre5 wirklich ein Wolthäter der fromm und zu Zwecken philoſophierenden Menſchheit, welcher dein reines Real- und Idealſyſtem in gemeiner Sprache vor die gemeine Anſchauung in ſyſtematiſchen Ketten führte und zöge aus deinen kleinen und größern und polemiſchen Werken; Köppen z. B. — Aber wie konnte dieſer mir einen ſolchen Ver-10 nichtungs-Krieg zweier Meinungen in die Seele
d. 6 März
verlegen? Hab’ ich denn ſo wenig Konſequenz und Beſonnenheit, daß ich im Raume einer Vorrede (der Vorſchule) aus 2 entgegen- geſetzten Kanzeln predigen kann? Was ich am deutlichſten aus-15 geſprochen, durch Worte und Leben (denn langes Schreiben gilt Leben gleich), aus dieſem ſollte er ſich das Dunkle erklären, nicht durch dieſes jenes verfinſtern. In mir iſt ein unwandelbarer Ernſt; wie könnt’ ich ſonſt ewig an deinen und andern Werken ſo hangen? — Der „Scherz“ begehrt freilich die ganze Lehr- und Lern-Welt, aber20 nur als Ingredienz, nicht als Ziel. Ohne Ernſt kenn’ ich keinen Scherz, aber Ernſt ohne Scherz iſt denkbar und ſogar urſprünglich. — Die ganze Auflöſung der Charade oder des Chronodiſtichons — wenn ich eines bin — iſt die ſchon unter 1000 Räthſel geſetzte, daß mich eben der höhere Sinn ergreift, er mag ſonſt wörtlich gegen25 meinen ausſprechen was er will, und daß ich mich der theilweiſen Wahrheit von allen Seiten offen halte, weil mein Ich kein Tempel, Altar oder gar Repräſentant 〈Vicegott〉 der himmliſchen Wahrheit ſein kann. Eine erbärmlichere Erde gäb’ es doch wahrlich nicht als eine, worauf nur 5 oder 6 Leute Recht hätten; — wozu denn die30 andern? Wozu Wiederſcheine des Wiederſcheins Gottes? — Du richteſt mich ſelber nach meiner Regel; darum ſchreib’ ich ſo hin. Die Kern-Punkte des Streits brauchen aber eine mündliche Zeit. Ich wollte, Bouterwek und Köppen hätten ſich dialektiſch mehr auf
*) Ich hört’ es auch; nur die neuere Fichtiſche und Schellingſche Schule35 könnte dich, wäre ſie frömmer, mit dem Kopfe mehr verſtehen; aber der ältern und der kritiſchen bleibſt du ſo leer 〈dunkel〉 wie die Nacht voll Sonnen.
6 Jean Paul Briefe. V.
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nommen den langen Aufſatz gegen Kants Kritik): ſo errath’ ich *),
wie viel andern gut meinenden Seelen entrinnt; und der wäre 5
wirklich ein Wolthäter der fromm und zu Zwecken philoſophierenden
Menſchheit, welcher dein reines Real- und Idealſyſtem in gemeiner
Sprache vor die gemeine Anſchauung in ſyſtematiſchen Ketten führte
und zöge aus deinen kleinen und größern und polemiſchen Werken;
Köppen z. B. — Aber wie konnte dieſer mir einen ſolchen Ver- 10
nichtungs-Krieg zweier Meinungen in die Seele
d. 6 März
verlegen? Hab’ ich denn ſo wenig Konſequenz und Beſonnenheit, daß
ich im Raume einer Vorrede (der Vorſchule) aus 2 entgegen-
geſetzten Kanzeln predigen kann? Was ich am deutlichſten aus- 15
geſprochen, durch Worte und Leben (denn langes Schreiben gilt
Leben gleich), aus dieſem ſollte er ſich das Dunkle erklären, nicht
durch dieſes jenes verfinſtern. In mir iſt ein unwandelbarer Ernſt;
wie könnt’ ich ſonſt ewig an deinen und andern Werken ſo hangen? —
Der „Scherz“ begehrt freilich die ganze Lehr- und Lern-Welt, aber 20
nur als Ingredienz, nicht als Ziel. Ohne Ernſt kenn’ ich keinen
Scherz, aber Ernſt ohne Scherz iſt denkbar und ſogar urſprünglich. —
Die ganze Auflöſung der Charade oder des Chronodiſtichons —
wenn ich eines bin — iſt die ſchon unter 1000 Räthſel geſetzte, daß
mich eben der höhere Sinn ergreift, er mag ſonſt wörtlich gegen 25
meinen ausſprechen was er will, und daß ich mich der theilweiſen
Wahrheit von allen Seiten offen halte, weil mein Ich kein Tempel,
Altar oder gar Repräſentant 〈Vicegott〉 der himmliſchen Wahrheit
ſein kann. Eine erbärmlichere Erde gäb’ es doch wahrlich nicht als
eine, worauf nur 5 oder 6 Leute Recht hätten; — wozu denn die 30
andern? Wozu Wiederſcheine des Wiederſcheins Gottes? — Du
richteſt mich ſelber nach meiner Regel; darum ſchreib’ ich ſo hin.
Die Kern-Punkte des Streits brauchen aber eine mündliche Zeit.
Ich wollte, Bouterwek und Köppen hätten ſich dialektiſch mehr auf
*) Ich hört’ es auch; nur die neuere Fichtiſche und Schellingſche Schule 35
könnte dich, wäre ſie frömmer, mit dem Kopfe mehr verſtehen; aber der ältern und
der kritiſchen bleibſt du ſo leer 〈dunkel〉 wie die Nacht voll Sonnen.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:13:57Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:13:57Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 5. Berlin, 1961, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe05_1961/96>, abgerufen am 16.02.2025.
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