sein Ich nicht zweimal, sehend und gesehen; daher fehlt ihm die hohe Freiheit, ein feindseliges Individuum zu verstehen und zu benuzen. Völker, deren Individualität immer nur eine Idee, stat einer An- schauung wird, hat er herlich konstruiert wie noch kein Autor; und doch kein Drama, nicht einmal ein leidliches Gespräch. Lezteres fodert5 höchste Gewalt über Mensch und Sache zugleich. Darum ist Plato so dichtend. Dein Dialog im Hume ist noch nicht genug gelobt worden. -- Über H[erder], über seinen passiv-poetischen Geist, der durch die[263] kleinste Handlung geht, über seinen feinsten Kunstsin, über den heiligen griechischen menschlichen Zartsin seines obwohl ungestümen Herzens;10 -- und wieder über seine Selbstquaal und seinen Selbsttrug, über den Schattenkampf mit einem Wetlauf der Zeit, dem er selber die Schran- ken geöfnet u. s. w. darüber brauchte man ein Buch für andere; -- und für dich nicht diese Seite, da du ihn ja persönlich kenst. Ein anderer könte mit der Hälfte seiner Kräfte Wunder thun. Er ist eine Welt,15 hat aber keine zweite, worauf er stehen könte, wenn er jene regen wil.
Da ich noch anno 1782, 83, 84 den genial[ischen] Platner hörte -- der im Hörsaal philosophieren, und nur unter der Presse Philosophie lehrt --: so vernahm ich schon von ihm (ich habe die Periode ganz verkehrt angefangen), daß Spinoza eine dunkle tiefe Kluft vol ge-20 fährlicher Kräfte sei und daß dieser damals noch in der Mitternacht schleichende Geist ein Nez habe, das eigentlich über Gott und Uni- versum zugleich reiche, wenn ers überwerfe. Platner hat eine höhere vieläugigere Denkseele als er in die wolfischen Paragraphen-Zellen bannen kan. Jezt verdrüsset mich an ihm seine unsägliche Leipzigische25 Eitelkeit.
Meinem Französischen -- ob ich dir gleich künftig folge -- thust du einiges Unrecht; 1) billigten es geborne Franzosen und Französinnen (z. B. die Fr. v. Sydow vorige F. v. Montbar) und Deutsche 2) darf die Poesie nicht die gemeine Sprache aufnehmen, 4) [!] haben nur30 manierierte Karaktere z. B. Froulay ein französisches Idiotikon -- 5) magst du etwas Recht haben*) -- 6) hab' ich die Unart, Französisch ins Deutsche zu mengen, zumal im Affekt oder in der Verlegenheit, zumal bei Weibern, oft gefunden. Selber die Herzogin von Hild- burghausen sagte mir, daß ihre Mutter deutsch anfange, immer mehr35
*) denn dein Französisch ist volendet.
ſein Ich nicht zweimal, ſehend und geſehen; daher fehlt ihm die hohe Freiheit, ein feindſeliges Individuum zu verſtehen und zu benuzen. Völker, deren Individualität immer nur eine Idee, ſtat einer An- ſchauung wird, hat er herlich konſtruiert wie noch kein Autor; und doch kein Drama, nicht einmal ein leidliches Geſpräch. Lezteres fodert5 höchſte Gewalt über Menſch und Sache zugleich. Darum iſt Plato ſo dichtend. Dein Dialog im Hume iſt noch nicht genug gelobt worden. — Über H[erder], über ſeinen paſſiv-poetiſchen Geiſt, der durch die[263] kleinſte Handlung geht, über ſeinen feinſten Kunſtſin, über den heiligen griechiſchen menſchlichen Zartſin ſeines obwohl ungeſtümen Herzens;10 — und wieder über ſeine Selbſtquaal und ſeinen Selbſttrug, über den Schattenkampf mit einem Wetlauf der Zeit, dem er ſelber die Schran- ken geöfnet u. ſ. w. darüber brauchte man ein Buch für andere; — und für dich nicht dieſe Seite, da du ihn ja perſönlich kenſt. Ein anderer könte mit der Hälfte ſeiner Kräfte Wunder thun. Er iſt eine Welt,15 hat aber keine zweite, worauf er ſtehen könte, wenn er jene regen wil.
Da ich noch anno 1782, 83, 84 den genial[iſchen] Platner hörte — der im Hörſaal philoſophieren, und nur unter der Preſſe Philoſophie lehrt —: ſo vernahm ich ſchon von ihm (ich habe die Periode ganz verkehrt angefangen), daß Spinoza eine dunkle tiefe Kluft vol ge-20 fährlicher Kräfte ſei und daß dieſer damals noch in der Mitternacht ſchleichende Geiſt ein Nez habe, das eigentlich über Gott und Uni- verſum zugleich reiche, wenn ers überwerfe. Platner hat eine höhere vieläugigere Denkſeele als er in die wolfiſchen Paragraphen-Zellen bannen kan. Jezt verdrüſſet mich an ihm ſeine unſägliche Leipzigiſche25 Eitelkeit.
Meinem Franzöſiſchen — ob ich dir gleich künftig folge — thuſt du einiges Unrecht; 1) billigten es geborne Franzoſen und Franzöſinnen (z. B. die Fr. v. Sydow vorige F. v. Montbar) und Deutſche 2) darf die Poeſie nicht die gemeine Sprache aufnehmen, 4) [!] haben nur30 manierierte Karaktere z. B. Froulay ein franzöſiſches Idiotikon — 5) magſt du etwas Recht haben*) — 6) hab’ ich die Unart, Franzöſiſch ins Deutſche zu mengen, zumal im Affekt oder in der Verlegenheit, zumal bei Weibern, oft gefunden. Selber die Herzogin von Hild- burghausen ſagte mir, daß ihre Mutter deutſch anfange, immer mehr35
*) denn dein Franzöſiſch iſt volendet.
<TEI><text><body><divtype="letter"n="1"><p><pbfacs="#f0243"n="235"/>ſein Ich nicht zweimal, ſehend und geſehen; daher fehlt ihm die hohe<lb/>
Freiheit, ein feindſeliges Individuum zu verſtehen und zu benuzen.<lb/>
Völker, deren Individualität immer nur eine Idee, ſtat einer An-<lb/>ſchauung wird, hat er herlich konſtruiert wie noch kein Autor; und doch<lb/>
kein Drama, nicht einmal ein leidliches Geſpräch. Lezteres fodert<lbn="5"/>
höchſte Gewalt über Menſch und Sache zugleich. Darum iſt Plato ſo<lb/>
dichtend. Dein Dialog im <hirendition="#aq">Hume</hi> iſt noch nicht genug gelobt worden. —<lb/>
Über <hirendition="#aq">H[erder],</hi> über ſeinen paſſiv-poetiſchen Geiſt, der durch die<noteplace="right"><reftarget="1922_Bd4_263">[263]</ref></note><lb/>
kleinſte Handlung geht, über ſeinen feinſten Kunſtſin, über den heiligen<lb/>
griechiſchen menſchlichen Zartſin ſeines obwohl ungeſtümen Herzens;<lbn="10"/>— und wieder über ſeine Selbſtquaal und ſeinen Selbſttrug, über den<lb/>
Schattenkampf mit einem Wetlauf der Zeit, dem er ſelber die Schran-<lb/>
ken geöfnet u. ſ. w. darüber brauchte man ein Buch für andere; — und<lb/>
für dich nicht dieſe Seite, da du ihn ja perſönlich kenſt. Ein anderer<lb/>
könte mit der Hälfte ſeiner Kräfte Wunder thun. Er iſt eine Welt,<lbn="15"/>
hat aber keine zweite, worauf er ſtehen könte, wenn er jene regen wil.</p><lb/><p>Da ich noch <hirendition="#aq">anno</hi> 1782, 83, 84 den genial[iſchen] Platner hörte —<lb/>
der im Hörſaal philoſophieren, und nur unter der Preſſe Philoſophie<lb/>
lehrt —: ſo vernahm ich ſchon von ihm (ich habe die Periode ganz<lb/>
verkehrt angefangen), daß Spinoza eine dunkle tiefe Kluft vol ge-<lbn="20"/>
fährlicher Kräfte ſei und daß dieſer damals noch in der Mitternacht<lb/>ſchleichende Geiſt ein Nez habe, das eigentlich über Gott und Uni-<lb/>
verſum zugleich reiche, wenn ers überwerfe. Platner hat eine höhere<lb/>
vieläugigere Denkſeele als er in die wolfiſchen Paragraphen-Zellen<lb/>
bannen kan. Jezt verdrüſſet mich an ihm ſeine unſägliche Leipzigiſche<lbn="25"/>
Eitelkeit.</p><lb/><p>Meinem Franzöſiſchen — ob ich dir gleich künftig folge — thuſt du<lb/>
einiges Unrecht; 1) billigten es geborne Franzoſen und Franzöſinnen<lb/>
(z. B. die Fr. <hirendition="#aq">v. Sydow</hi> vorige F. v. <hirendition="#aq">Montbar</hi>) und Deutſche 2) darf<lb/>
die Poeſie nicht die gemeine Sprache aufnehmen, 4) [!] haben nur<lbn="30"/>
manierierte Karaktere z. B. Froulay ein franzöſiſches Idiotikon —<lb/>
5) magſt du etwas Recht haben<noteplace="foot"n="*)">denn dein Franzöſiſch iſt volendet.</note>— 6) hab’ ich die Unart, Franzöſiſch<lb/>
ins Deutſche zu mengen, zumal im Affekt oder in der Verlegenheit,<lb/>
zumal bei Weibern, oft gefunden. Selber die Herzogin von <hirendition="#aq">Hild-<lb/>
burghausen</hi>ſagte mir, daß ihre Mutter deutſch anfange, immer mehr<lbn="35"/></p></div></body></text></TEI>
[235/0243]
ſein Ich nicht zweimal, ſehend und geſehen; daher fehlt ihm die hohe
Freiheit, ein feindſeliges Individuum zu verſtehen und zu benuzen.
Völker, deren Individualität immer nur eine Idee, ſtat einer An-
ſchauung wird, hat er herlich konſtruiert wie noch kein Autor; und doch
kein Drama, nicht einmal ein leidliches Geſpräch. Lezteres fodert 5
höchſte Gewalt über Menſch und Sache zugleich. Darum iſt Plato ſo
dichtend. Dein Dialog im Hume iſt noch nicht genug gelobt worden. —
Über H[erder], über ſeinen paſſiv-poetiſchen Geiſt, der durch die
kleinſte Handlung geht, über ſeinen feinſten Kunſtſin, über den heiligen
griechiſchen menſchlichen Zartſin ſeines obwohl ungeſtümen Herzens; 10
— und wieder über ſeine Selbſtquaal und ſeinen Selbſttrug, über den
Schattenkampf mit einem Wetlauf der Zeit, dem er ſelber die Schran-
ken geöfnet u. ſ. w. darüber brauchte man ein Buch für andere; — und
für dich nicht dieſe Seite, da du ihn ja perſönlich kenſt. Ein anderer
könte mit der Hälfte ſeiner Kräfte Wunder thun. Er iſt eine Welt, 15
hat aber keine zweite, worauf er ſtehen könte, wenn er jene regen wil.
[263]
Da ich noch anno 1782, 83, 84 den genial[iſchen] Platner hörte —
der im Hörſaal philoſophieren, und nur unter der Preſſe Philoſophie
lehrt —: ſo vernahm ich ſchon von ihm (ich habe die Periode ganz
verkehrt angefangen), daß Spinoza eine dunkle tiefe Kluft vol ge- 20
fährlicher Kräfte ſei und daß dieſer damals noch in der Mitternacht
ſchleichende Geiſt ein Nez habe, das eigentlich über Gott und Uni-
verſum zugleich reiche, wenn ers überwerfe. Platner hat eine höhere
vieläugigere Denkſeele als er in die wolfiſchen Paragraphen-Zellen
bannen kan. Jezt verdrüſſet mich an ihm ſeine unſägliche Leipzigiſche 25
Eitelkeit.
Meinem Franzöſiſchen — ob ich dir gleich künftig folge — thuſt du
einiges Unrecht; 1) billigten es geborne Franzoſen und Franzöſinnen
(z. B. die Fr. v. Sydow vorige F. v. Montbar) und Deutſche 2) darf
die Poeſie nicht die gemeine Sprache aufnehmen, 4) [!] haben nur 30
manierierte Karaktere z. B. Froulay ein franzöſiſches Idiotikon —
5) magſt du etwas Recht haben *) — 6) hab’ ich die Unart, Franzöſiſch
ins Deutſche zu mengen, zumal im Affekt oder in der Verlegenheit,
zumal bei Weibern, oft gefunden. Selber die Herzogin von Hild-
burghausen ſagte mir, daß ihre Mutter deutſch anfange, immer mehr 35
*) denn dein Franzöſiſch iſt volendet.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:08:29Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:08:29Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 4. Berlin, 1960, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe04_1960/243>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.