Rousseau zur rechten Zeit; wissen wir, wie er in die künftige Welt seine[208] Geister aus dieser schicken mus? -- Unserer kleinen Freuden und Ab- sichten wegen auf dem Erden-Körngen sol der grosse Bau umgebauet werden? Und wir wollen den Lauf der Natur, dem wir ja eben alle Güter verdanken und den wir ehren, wenn er giebt, umgekehret haben,5 wenn er nehmen mus. -- Nur das Veränderliche oder Seltene -- d. h. das scheinbare, weil das Seltene so nothwendig ist als das Gewöhn- liche -- wird uns zu ertragen schwer, nicht das Unveränderliche -- als wären nicht beide eins -- und ein kalter Sommertag ärgert mehr als ein Wintertag, obgleich die Nothwendigkeit dieselbe ist; stürbe jeder10 z. B. im 30ten Jahr, wir erduldeten es nicht viel schwerer als den Winter.
Wie, der Unendliche hat im Körper des Wurms jede Ader und jeden Ring berechnet; nur ein ganzes Menschenleben brächt' er nicht in Rechnung? Ich gab auf mein und auf fremdes Leben Acht und fand15 darin die Hand eines unendlichen Geistes, der nicht Ein Wesen sondern Millionen Einem Ziel zutreibt. Geben Sie z. B. nur auf den immer wiederkehrenden Wechsel von grossem Glük und Schmerz, auf die Nemesis Acht!
Die Menschheit geht jezt durch ein rothes Blutmeer -- vielleicht20 mehr als ein Jahrhundert lang -- ihrem gelobten Land entgegen; -- und unsere frühere Geburt erspart uns Wunden: wissen Sie, ob das weich-organisierte Wesen nicht zu sehr wäre von den blutigen Wellen erschüttert worden, die schon in unserer Zukunft rauschen? -- Unser Leben ist ein Abend und vol Dämmerung und wir können unsichtbare25 Wesen verlezen ohne es zu wissen; und darum spricht das Gewissen in uns als Ruf in der Nacht: können Sie wissen, welche schmerzliche Verbindung Ihr ewiger Gram mit der Geisterwelt und sogar mit dem geliebten Wesen habe? Und noch dazu ist in Ihrem Schmerze eigentlich eine auflösende Süssigkeit, die eben seinen Abschied so verzögert, ich30 möchte sagen ein Luxus der Wehmuth -- Und da eine Person von Ihnen dadurch früher sich zerstöret als die andere: hat sie dan in der lezten Minute einen Trost, wenn das weinende Auge in das brechende blikt, und wenn sie sich sagen mus: diese frühe Scheidung, diese tiefe[209] Wunde ist ja blos meine Schuld? --35
Allerdings kan man nicht die Ankunft eines Leichen-Gedanken verwehren; aber sein Bleiben und seine Geselschaft steht in unserer
Rouſſeau zur rechten Zeit; wiſſen wir, wie er in die künftige Welt ſeine[208] Geiſter aus dieſer ſchicken mus? — Unſerer kleinen Freuden und Ab- ſichten wegen auf dem Erden-Körngen ſol der groſſe Bau umgebauet werden? Und wir wollen den Lauf der Natur, dem wir ja eben alle Güter verdanken und den wir ehren, wenn er giebt, umgekehret haben,5 wenn er nehmen mus. — Nur das Veränderliche oder Seltene — d. h. das ſcheinbare, weil das Seltene ſo nothwendig iſt als das Gewöhn- liche — wird uns zu ertragen ſchwer, nicht das Unveränderliche — als wären nicht beide eins — und ein kalter Sommertag ärgert mehr als ein Wintertag, obgleich die Nothwendigkeit dieſelbe iſt; ſtürbe jeder10 z. B. im 30ten Jahr, wir erduldeten es nicht viel ſchwerer als den Winter.
Wie, der Unendliche hat im Körper des Wurms jede Ader und jeden Ring berechnet; nur ein ganzes Menſchenleben brächt’ er nicht in Rechnung? Ich gab auf mein und auf fremdes Leben Acht und fand15 darin die Hand eines unendlichen Geiſtes, der nicht Ein Weſen ſondern Millionen Einem Ziel zutreibt. Geben Sie z. B. nur auf den immer wiederkehrenden Wechſel von groſſem Glük und Schmerz, auf die Nemeſis Acht!
Die Menſchheit geht jezt durch ein rothes Blutmeer — vielleicht20 mehr als ein Jahrhundert lang — ihrem gelobten Land entgegen; — und unſere frühere Geburt erſpart uns Wunden: wiſſen Sie, ob das weich-organiſierte Weſen nicht zu ſehr wäre von den blutigen Wellen erſchüttert worden, die ſchon in unſerer Zukunft rauſchen? — Unſer Leben iſt ein Abend und vol Dämmerung und wir können unſichtbare25 Weſen verlezen ohne es zu wiſſen; und darum ſpricht das Gewiſſen in uns als Ruf in der Nacht: können Sie wiſſen, welche ſchmerzliche Verbindung Ihr ewiger Gram mit der Geiſterwelt und ſogar mit dem geliebten Weſen habe? Und noch dazu iſt in Ihrem Schmerze eigentlich eine auflöſende Süſſigkeit, die eben ſeinen Abſchied ſo verzögert, ich30 möchte ſagen ein Luxus der Wehmuth — Und da eine Perſon von Ihnen dadurch früher ſich zerſtöret als die andere: hat ſie dan in der lezten Minute einen Troſt, wenn das weinende Auge in das brechende blikt, und wenn ſie ſich ſagen mus: dieſe frühe Scheidung, dieſe tiefe[209] Wunde iſt ja blos meine Schuld? —35
Allerdings kan man nicht die Ankunft eines Leichen-Gedanken verwehren; aber ſein Bleiben und ſeine Geſelſchaft ſteht in unſerer
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Rouſſeau zur rechten Zeit; wiſſen wir, wie er in die künftige Welt ſeine
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werden? Und wir wollen den Lauf der Natur, dem wir ja eben alle
Güter verdanken und den wir ehren, wenn er giebt, umgekehret haben, 5
wenn er nehmen mus. — Nur das Veränderliche oder Seltene — d. h.
das ſcheinbare, weil das Seltene ſo nothwendig iſt als das Gewöhn-
liche — wird uns zu ertragen ſchwer, nicht das Unveränderliche — als
wären nicht beide eins — und ein kalter Sommertag ärgert mehr als
ein Wintertag, obgleich die Nothwendigkeit dieſelbe iſt; ſtürbe jeder 10
z. B. im 30ten Jahr, wir erduldeten es nicht viel ſchwerer als den
Winter.
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Wie, der Unendliche hat im Körper des Wurms jede Ader und jeden
Ring berechnet; nur ein ganzes Menſchenleben brächt’ er nicht in
Rechnung? Ich gab auf mein und auf fremdes Leben Acht und fand 15
darin die Hand eines unendlichen Geiſtes, der nicht Ein Weſen ſondern
Millionen Einem Ziel zutreibt. Geben Sie z. B. nur auf den immer
wiederkehrenden Wechſel von groſſem Glük und Schmerz, auf die
Nemeſis Acht!
Die Menſchheit geht jezt durch ein rothes Blutmeer — vielleicht 20
mehr als ein Jahrhundert lang — ihrem gelobten Land entgegen; —
und unſere frühere Geburt erſpart uns Wunden: wiſſen Sie, ob das
weich-organiſierte Weſen nicht zu ſehr wäre von den blutigen Wellen
erſchüttert worden, die ſchon in unſerer Zukunft rauſchen? — Unſer
Leben iſt ein Abend und vol Dämmerung und wir können unſichtbare 25
Weſen verlezen ohne es zu wiſſen; und darum ſpricht das Gewiſſen
in uns als Ruf in der Nacht: können Sie wiſſen, welche ſchmerzliche
Verbindung Ihr ewiger Gram mit der Geiſterwelt und ſogar mit dem
geliebten Weſen habe? Und noch dazu iſt in Ihrem Schmerze eigentlich
eine auflöſende Süſſigkeit, die eben ſeinen Abſchied ſo verzögert, ich 30
möchte ſagen ein Luxus der Wehmuth — Und da eine Perſon von
Ihnen dadurch früher ſich zerſtöret als die andere: hat ſie dan in der
lezten Minute einen Troſt, wenn das weinende Auge in das brechende
blikt, und wenn ſie ſich ſagen mus: dieſe frühe Scheidung, dieſe tiefe
Wunde iſt ja blos meine Schuld? — 35
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Allerdings kan man nicht die Ankunft eines Leichen-Gedanken
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:05:42Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:05:42Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 3. Berlin, 1959, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe03_1959/204>, abgerufen am 25.11.2024.
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